Die Schattenstaffel Kommissar Morry
Seebad ,Southend on Sea' ein Kapitalverbrechen. Opfer eines Mordanschlages wurde Lady Viktoria H. aus Pimlico. Man fand die bejahrte Dame in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages tot im Meere, dicht am Strande unweit des Seebades. Die sofort eingeleiteten Ermittlungen der Police ergaben, daß der Tod zweifellos gewaltsam herbeigeführt worden ist. Wie unser Sondermitarbeiter meldet, hat die Mordkommission von Scotland Yard einige ihrer bewährtesten Kräfte an den Tatort entsandt. Schon jetzt läßt sich Voraussagen, daß die Ergreifung des Täters nicht lange auf sich warten lassen dürfte. Mutmaßlich ist er der Polizei bekannt. Zur Zeit überprüft Scotland Yard das Alibi eines Mannes, der dringend tatverdächtig ist.
Um das beschleunigte Ermittlungsverfahren nicht zu stören, bitten wir unsere Leser um Verständnis, daß der Name dieser Person noch nicht bekanntgegeben wird. Mit Zustimmung des Sektionspräsidenten unserer geschätzten Police dürfen wir vorwegnehmen: Die stark verdächtige Person gehört zum engeren Verwandtenkreis der Ermordeten. Weitere Nachrichten über die Aufklärung dieses Verbrechens von Southend on Sea bringen wir morgen früh."
Aus zwei Gründen hatte Kommissar Morry — entgegen seiner wirklichen Meinung — diesen Artikel absichtlich veröffentlichen lassen.
Erstens sollte die aufgebrachte Öffentlichkeit beruhigt werden, und zweitens war es seine Absicht, den wirklichen Täter — besser: den ganzen Täterkreis — in Sicherheit zu wiegen. Der Schachzug sollte sich als richtig erweisen. Morry suchte an diesem Montagmorgen mit seinen Leuten die Villa in Pimlico auf.
Er fragte den Butler:
„Wo befinden sich die Räume der Lady?"
Während er dann schweigend neben dem ältlichen Hausgeist die Stufen zur ersten Etage der Villa hinaufschritt, gab er seinen Boys den Auftrag:
„Bishops, steigen Sie bis in das Dachgeschoß hinauf und schauen Sie sich da oben einmal um. Sie wissen ja, was ich vermute. Ich will wissen, welchen Weg unsere Freunde genommen haben könnten."
„Well!" Konstabler Ric Bishops machte wenig Worte. Er stieg allein die Treppen zum Dachgeschoß hinauf. Morry wandte sich wieder an den völlig verstörten Butler:
„Eine Frage: Wann haben Sie das letzte Mal die Räume Lady Hurlinghamers betreten?"
„Noch heute morgen, Sir", kam leise die Antwort. Der Alte ging — vor Erschütterung stolpernd — voran.
„Und haben Sie keine Veränderung in irgendwelchen Räumen feststellen können?"
Der Diener schüttelte den Kopf.
„Nicht, daß es mir aufgefallen wäre, Sir. Es stand alles noch am gleichen Platze wie sonst."
„Thanks!" Morry stellte fest, daß die Burschen äußerst geschickt zu Werke gegangen waren. Warum Lady Hurlinghamer ihr Leben lassen mußte, war ihm noch nicht restlos klar. Er mußte herausfinden, ob der Mord womöglich eine Effekthandlung — eine Kurzschlußhandlung — der vertierten Verbrecher gewesen war, oder ob sie alles von langer Hand vorbereitet hatten.
Als Morry den ersten Wohnraum des Opfers betrat, glitt sein Blick prüfend an den Wänden entlang. Es war ein stilvoll eingerichteter, geräumiger Salon. Allein das Mobiliar zeugte von Wohlstand und Reichtum der einstigen Besitzerin. Nachdenklich fragte der Kommissar den erschüttert an der Tür stehengebliebenen Butler:
„Ist Ihnen bekannt, wo die Lady ihre Kostbarkeiten — Schmuck und Barvermögen — aufzubewahren pflegte?"
„No, Sir", antwortete der Gefragte apathisch.
„Hatte die Lady — irgendwann einmal — von einem Versteck gesprochen, in welchem sie ihre Wertsachen aufbewahrte? Überlegen Sie bitte sorgfältig."
Der Butler verneinte ostentativ. Schon wollte Morry eine weitere Frage stellen, entschloß sich jedoch, zunächst erst einmal einen Blick in das Schlafgemach der Ermordeten zu tun. Die Tür zum Schlafzimmer war mit schwerer Seide verhangen. Morrys Blick fuhr tastend die Wände des Zimmers entlang.
Wieder war nichts Auffälliges daran zu sehen. Schließlich war es das einzige Gemälde, das an der Stirnseite zwischen dem erhöhten Bett und dem Frisiertisch hing, welches ihn mit fast magischer Gewalt anzog. Es war Peter Paul Rubens faszinierendes Gemälde „Die heilige Cäcilia".
Schon, als Morry sich dem Bild näherte, bemerkte er zwei, drei dunkle Flecken auf dem Boden. Es handelte sich um kleine Brandmale, die offenbar von heißen Metallteilchen herrührten. Hier also war sicherlich mit einem Brenngerät gearbeitet worden, wobei das zum Schmelzen
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