Die Schattensurfer (German Edition)
sie.
Kalawesi legte seine rechte Hand aufs Herz, als wollte er die Nationalhymne singen. Mit Daumen und Zeigefinger klappte er das Revers seines Sakkos ein wenig zur Seite. Die rote Irokesenfrisur der Ratte lugte aus der Tasche hervor. „Das ist Rüdiger. Du hast ihn doch schon gesehen“, sagte Kalawesi fast ein wenig vorwurfsvoll.
Sansibar knetete nervös ihr Ohrläppchen. Ihr Leben sollte in den Pfoten einer Ratte liegen?
Kalawesi zog ein Blatt Papier aus dem Drucker neben dem Computer. „Hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Leben noch einmal richtig schreiben würde. Das letzte Mal habe ich im Kindergarten auf Papier gemalt.“ Kalawesi nahm ein abgebranntes Streichholz vom Kerzenteller. Mit dem rußschwarzen Hölzchen kritzelte er Buchstaben aufs Papier. Er trennte die beschriebene Ecke ab, rollte sie zusammen und holte Rüdiger aus seiner Sakkotasche. Die Ratte sah wenig begeistert aus. Misstrauisch äugte sie zu Sansibar hinüber.
„Du musst uns helfen“, zischte Kalawesi seiner Ratte zu und kraulte sie hinter den Ohren. „Bring das Albert.“ Er schwenkte das Papierröllchen vor der Nase der Ratte. Rüdiger nahm keine Notiz davon. Kalawesi zog drei Tütchen Senf aus seiner Jackentasche. Die erste riss er gleich auf. Gierig stülpte Rüdiger sein Maul über die Öffnung. Kalawesi drückte mit Daumen und Zeigefinger den Inhalt nach oben, der schlürfend in Rüdigers Bauch verschwand.
Nach dem dritten Tütchen war Rüdiger immer noch nicht zufrieden. Sein Bauch wölbte sich, als hätte er einen Tischtennisball verschluckt. Rüdiger deutete mit der Schnauze auf Kalawesis Jackentasche. Kalawesi schüttelte den Kopf: „Jetzt ist Schluss, sonst passt du nicht mehr durch die Maschen. Aber wenn du Albert die Nachricht gebracht hast, bekommst du einen ganzen Eimer Senf. Du weißt schon, so einen 20-Liter-Eimer für eine Restaurantküche.“
Rüdigers Augen strahlten, als hätte Kalawesi einen Laser angeknipst.
„Jetzt aber los. Beeil dich!“ Kalawesi schob die Ratte zum Lichtvorhang. Rüdiger huschte davon.
„War wohl etwas viel Senf“, meinte Sansibar, als es Rüdiger erst beim dritten Versuch gelang, sich durch die Maschen zu quetschen.
Kalawesi schnaubte erleichtert.
„Ist Rüdiger ein Robopet oder eine dressierte Ratte?“
Kalawesi zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Vor vielen Jahren hatte ich eine dressierte Ratte. Sie hieß Rüdiger. Nach seinem Vorbild habe ich ein Robopet konstruiert. Ich nannte es auch Rüdiger. Mit Rüdiger wollte ich eine neue Attraktion für den Lunapark aufbauen: „Rattenalarm.“ Doch eines Tages war eine Ratte verschwunden und nur Rüdiger blieb übrig.“
„Die Ratte oder das Robopet?“, fragte Sansibar.
„Weiß nicht“, sagte Kalawesi und starrte auf die leeren Senftütchen. „Die Idee mit dem Rattenalarm habe ich wieder verworfen. Die meisten Menschen mögen keine Ratten.“
Sansibar ging zum Snackautomaten und zog das letzte Käsesandwich heraus. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Hungrig biss sie hinein. Am liebsten hätte sie den ganzen Bissen wieder ausgespuckt: „Igitt, da ist ja Senf drauf!“
33 DER FREUNDLICHE SIPO
Luan hatte schon viel zu viel Zeit verloren. Er musste endlich das Medikamentenlager suchen. 9 Stunden 8 Minuten blinkte auf seinem ceeBand. Vorsichtig zog er den samtblauen Lichtvorhang ein Stückchen zur Seite. Obwohl es Prönke erlaubt hatte, fühlte es sich verboten an.
Luan trat in den grünlich beleuchteten Gang hinaus. Chlorgeruch brannte ihm in der Nase. Ganz leise setzte Luan seine Füße auf. Niemand sollte ihn hören. In immer gleichen Abständen zweigten Zimmer ab. Lichtvorhänge versperrten den Blick. Einige waren verriegelt, andere nur zugezogen.
Plötzlich knickte der Gang ab und Luan stand direkt vor den Aufzügen, bewacht von freundlich lächelnden Sipos. Die blauen Brillengläser blitzten ihn an.
Luan fühlte sich ertappt. Seine Beine zitterten. Wenn er sich jetzt umdrehte und weglief, machte er sich nur verdächtig. Luan blies sein Backen auf. Frechheit siegt, versuchte er sich Mut zu machen.
„Entschuldigen Sie, meine Herren, haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Stückchen mit dem Aufzug fahre? Das ewige Treppensteigen bekommt meinen Knien nicht.“
Keiner der Sipos sagte ein Wort. Sie lächelten ihn an.
„Danke“, atmete Luan auf. Er wollte das 5. Untergeschoß auf dem Bedienfeld auswählen.
Doch da schnellte der Arm eines Sipos hoch und packte
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