Die Schattensurfer (German Edition)
klappte den Deckel auf und schob sie zu Sansibar über den Schreibtisch.
„Nimm dir eine oder zwei! Du musst nicht nervös sein, Sansibar.“
„Danke.“ Mit zittrigen Fingern fischte Sansibar eine Nusspraline aus der Schachtel. Die süße Schokolade schmolz in ihrem Mund. Sansibar wagte nicht zu kauen. Das Knacken der Nüsse würde die Unterhaltung stören.
„Wir brauchen die Gedanken aller. Nur gemeinsam sind wir stark“, fuhr der Professor fort.
„Ich weiß“, murmelte Sansibar beschämt. Der Professor war so nett zu ihr. Irgendwie hatte er recht.
„Ich möchte der Gemeinschaft gerne helfen“, sagte Sansibar. Sie meinte es ernst und stellte sich vor, wie sie als Ärztin anderen Menschen helfen könnte.
„Es ist nicht einmal mühsam und tut kein bisschen weh“, erklärte Professor Brenius. Er zog eine Brille aus seinem weißen Kittel und faltete die goldenen Drahtbügel auseinander. Er setzte die Brille auf und lugte erwartungsvoll über den Rand der halbrunden Gläser.
„Es macht mir nichts aus, selbst wenn es mühsam ist. Ich helfe gerne.“ Sansibar setzte sich aufrecht hin. Sie hatte ein gutes Gefühl. Vielleicht würde Professor Brenius feststellen, dass sie überhaupt nicht an Disinformie litt.
Der Professor strich über die Mahagoniplatte seines Schreibtischs und der eingelassene Bildschirm blinkte auf. Der Professor tippte dies und jenes ein. Sansibar konnte den Inhalt nicht lesen. Die Schreibtischlampe spiegelte sich darin.
„Offenheit. Die Gemeinschaft braucht Offenheit. Jeder winzige Gedanke zählt. Auch wenn er dir noch so unbedeutend erscheint, hilft er das Wissen der Gesellschaft zu vermehren. Sansibar, ich frage dich: Bist du offen? Absolut offen!“
Sansibar schluckte. Da war er wieder, dieser bescheuerte Kloß im Hals. Natürlich war sie offen, sonst könnte sie besser lügen. Jetzt zum Beispiel. Ihren Vater hatte sie noch nie angeschwindelt und in der Schule hatte Sansibar immer ihre Meinung vertreten. Da mischte sich wieder Mamas Bild in ihre Gedanken – das orangefarbene T-Shirt mit der lila Blume, einer fünfblättrigen Orchidee. Ihre Mutter trug eine Tasche über der Schulter, eine Sporttasche. „Meine süße Sansibar. Ich muss gehen. Papa und du, ihr beide kommt übermorgen nach. Ich warte auf euch. Drüben.“
Sansibar zitterte, als stünde sie nur mit einem Schlafanzug bekleidet im Schneesturm. Die Stimme ihrer Mutter jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie kannte diese Erinnerung nicht. „Ihr beide kommt übermorgen nach. Ich warte auf euch. Drüben.“ Immer wieder drehten sich diese Worte in ihrem Kopf. Und dann drehten sich nicht nur die Worte, sondern alles wirbelte um sie herum. Plötzlich wurde die Welt um Sansibar schwarz, als hätte jemand den Stecker gezogen. Sie versank in tiefer Stille.
Als Sansibar die Augen irgendwann wieder öffnete, sah sie etwas Lilafarbenes vor sich. Verschwommen wölbte es sich nach links und rechts. Lärm donnerte auf ihre Trommelfelle, bis er sich schließlich zu Volksmusik zusammenfügte. Sie erkannte lilafarbenen Samt und dann Kalawesi. Er tupfte ihr einen Waschlappen auf die Stirn.
„Wo bin ich? Was ist passiert?“, nuschelte Sansibar.
„Die Pfleger haben dich zurückgebracht. Du bist zusammengebrochen, haben sie gesagt, ein extremer Fall von Disinformie.“
„Ich habe mich so bemüht. Ich wollte alles richtig machen.“ Sansibar war verzweifelt. Und dann dachte sie wieder an die Worte ihrer Mutter. Sie waren über Jahre verschüttet gewesen und fühlten sich doch so vertraut an. Sansibar hatte ein kleines Puzzlestück im schwarzen Loch ihrer Erinnerung gefunden. Warum war ihr das all die Jahre verborgen geblieben? Aber schon marschierten Zweifel durch ihren Kopf. Vielleicht hatte sich das damals ganz anders zugetragen. Mamas Stimme war nur ein Wunsch, ohne dass es wirklich passiert war. In Sansibars Kopf drehten sich die Wenns und Abers und Trotzdems wie in einer Wäschetrommel. Sie jagten einander.
Verzweifelt starrte sie Kalawesi an. „Ich muss raus hier“, murmelte sie. „Nach der Korrektur ist alles zu spät.“
Kalawesi nickte und tupfte noch einmal mit dem Tuch über Sansibars Stirn. Dann formte er mit den Händen einen Trichter und zischte: „Rüdiger wird uns helfen. Er kann sich durch die Maschen des Lichtvorhangs winden. Ihm wird es gelingen aus dem Korrekturhaus zu entkommen. Er kann Hilfe holen.“
Sansibar setzte sich auf. Außer ihnen war hier niemand. „Wer ist Rüdiger?“, murmelte
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