Die Schattensurfer (German Edition)
ihm zu. Nur ein einziges Mal. Es fühlte sich unendlich gut an. Luans Herz raste.
Im nächsten Augenblick war Sansibar aus dem Hof verschwunden. Und aus seinem Leben.
16 VERLOREN
Luan klebte immer noch an der Mauer von Etzingers Sauerkrautfabrik, gleich neben dem Tor. Er konnte sich nicht erinnern, wie lange er dort stand. Vielleicht eine viertel Stunde oder eine halbe Stunde oder eine ganze. Immer wieder hörte er Schritte durch die Lagerhalle laufen, trampeln, rennen oder stolpern. Aber seit das Tor verriegelt war, kam niemand zurück in den Hof. Weder die Sipos, noch Marella und auch nicht Sansibar. Sansibar ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihn vor den Sipos gerettet! Und dann war da noch ihr Lächeln.
Schließlich hörte Luan Pentussekmotoren aufheulen und in der Nacht verschwinden. Der Angstschweiß verlor seine Kraft, klebte immer weniger und gab Luan schließlich von der Mauer frei. Ganz tief holte Luan Luft. Er sehnte sich nach dem Gefühl, seine Lungen bis in die kleinsten Spitzen mit Sauerstoff zu füllen. Luan drehte seinen Fuß und trat vorsichtig auf. Er tat nicht mehr weh. Dankbar strich Luan über den Plasmaverband. Er drückte sich aus dem Schatten der Mauer. Hoffentlich hatte es Pablo geschafft. Pablo musste es geschafft haben!
Luan startete den Bersolmotor. Wie eine surrende Nähmaschine sprang er an. Luan ließ das Skateboard aus den Händen gleiten. Sanft schwebte es über dem Boden.
Luan stieg auf und beschleunigte. Er musste an Sansibar denken, wie sie ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen den Plasmaverband angelegt hatte.
Ein lautes Zischen riss Luan aus seinen Gedanken. Von oben, vom Dach kam es herunter. Luan stoppte das Board mit einem scharfen Schwung. Schon war das zischende Etwas neben ihm: Pablo. Seine Haare standen wie elektrisiert ab.
Luan grinste: „Sie haben dich auch nicht erwischt.“
„Sei still“, zischte Pablo. „Oder willst du ganz Mallinport aufwecken.“
„Wir haben es geschafft!“, freute sich Luan und boxte Pablo in den Arm.
„Vielleicht haben uns die Sipos nur eine Falle gestellt. Ganz blöd sind die auch nicht.“
Pablo wischte mit dem Handrücken übers Gesicht.
„Sansibar hat mich gerettet.“
„Wer?“ Pablo runzelte die Stirn.
Luan erzählte von den Begegnungen mit Sansibar, seinem verstauchten Fuß, dem Plasmaverband und dem Versteck hinter dem verrosteten Tor.
„Irgendwie passt das nicht zusammen“, sagte Pablo zweifelnd. „Und jetzt lass uns endlich verschwinden.“
Sie beschlossen, die Mauer an einer anderen Stelle zu überqueren. Auf Deckung bedacht, fuhren sie immer weiter westlich. Sie nutzten jeden Mauervorsprung und nahmen Umwege durch winzige Gassen und verlassene Hinterhöfe. Sie mieden den planierten Betonstreifen vor der Dunklen Mauer, dort, wo die Sipos die Geschwindigkeit ihrer Scooter voll ausspielen konnten.
„Lass es uns hier versuchen“, flüsterte Pablo irgendwann. Luan bremste ab. Verlassen ragte die Dunkle Mauer aus der leergefegten Betonschneise auf. Sie zog sich endlos nach links und rechts. Niemand war zu sehen.
„Wir riskieren es“, zischte Pablo. „Auf drei.“ Die Bersolmotoren der Skateboards surrten im Leerlauf. Pablo hob seine Hand und machte eine Faust. Er streckte den Daumen aus, dann den Zeigefinger. Er blickte noch einmal zu Luan. Mit dem Mittelfinger zählte er: drei.
Luan stieß sich mit aller Kraft ab und raste über den planierten Streifen. Aus den Augenwinkeln sah er Pablo neben sich.
Plötzlich heulten von beiden Seiten Sirenen auf. Sipo-Scooter rasten mit gleißenden Scheinwerfern auf sie zu. Luan konnte nichts mehr erkennen. Eine blecherne Stimme quäkte: „Kommen Sie sofort mit erhobenen Händen heraus! Und keine Tricks. 120 Euro, das ist wirklich billig.“
Luan raste einfach weiter. Es gab kein Zurück. Er schoss auf die Dunkle Mauer zu.
Die kreischenden Sirenen kamen immer näher, waren jeden Augenblick bei ihnen. „Keine billigen Tricks“, dröhnte die fliegende Blechstimme in seinen Ohren.
Luan kippte sein Skateboard an und raste die Dunkle Mauer hinauf. Er schoss in den Himmel als ritte er auf einer Rakete. Im nächsten Augenblick hatte er die Mauer überquert und glitt auf der anderen Seite hinunter. Pablos Skateboard schrappte neben ihm über den Betonboden. Mit einem scharfen Schwung bremste Luan ab. Sie hatten es geschafft. Sie waren zurück in der Schattenstadt. Willkommen zu Hause.
Luan hörte die Sipos fluchen. Ihre Scooter fauchten zornig, aber keiner wagte den
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