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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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hatte. Die beiden standen im Regen vor einem schmutzigen Gebäude, an dem ein Schild angebracht war, auf dem in weißer Farbe die verschmierte Aufschrift »Bartlemas Uhren« zu lesen war. Sie lächelten und wirkten glücklich. Jonathan starrte es ein paar Sekunden an, bevor ihm klar wurde, dass der Mann auf dem Bild sein Vater war. Nun, es war nicht der Alain, den Jonathan kannte. Dieser Mann hatte blondes und nicht graues Haar und er stand aufrecht und nicht leicht gebückt. Er sah nicht nur jünger aus – er wirkte wie ein ganz anderer Mensch. Jonathan fragte sich, wie er wohl damals gewesen war, ob er herumgealbert und Witze gemacht hatte.
    Die Frau kannte er nicht. Sie war jung und ihr dickes schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern herab. Zwei große goldene Ohrringe blitzten unter den Locken hervor. Sie war etwas eigenwillig angezogen, wie eine Zigeunerin, mit einer weißen Bluse und einem ausladenden, rot gemusterten Rock. Musste wohl damals in Mode gewesen sein, vermutete er. Ihr Lächeln hatte etwas Geheimnisvolles an sich und ihre grauen Augen wirkten trotzig.
    Graue Augen.
    Blitzartig durchfuhr Jonathan die Erkenntnis, dass er auf ein Foto seiner Mutter blickte. Er hatte nie zuvor ein Bild von ihr gesehen. Alain hatte immer behauptet, es gäbe keines. Er hatte ihn all die Jahre belogen. Der Groll und der bittere Zorn, den er so viele Jahre tief in seinem Inneren unterdrückt hatte, brach auf einmal aus ihm hervor. Er warf das Foto gegen die Wand und sank auf die Knie. Zum ersten Mal seit vielen Jahren weinte er.

    Etwas beschämt putzte Jonathan sich mit einem zerschlissenen Taschentuch die Nase und versuchte, sich zusammenzureißen. Dies führte zu nichts, obwohl er sich seltsamerweise besser fühlte, nachdem er geweint hatte. Er ging hinüber zu dem Foto. Der Rahmen war kaputt, aber das Foto war unbeschädigt. Vorsichtig zog er es aus dem Rahmen und stellte es auf den Schreibtisch.
    Warum hatte sein Vater ihn belogen? Jonathan konnte verstehen, dass er nicht über das Verschwinden seiner Frau sprechen wollte, aber zu lügen wegen eines Fotos? Das ergab keinen Sinn. Es schien einfach sinnlos grausam. Er sah sich um und erblickte die Bücher und die Papierfetzen. Vielleicht war die Antwort irgendwo hier verborgen. Jonathan nahm sich nacheinander Buch für Buch und begann zu lesen.
    Zwei lange Stunden später hatte er keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Die Bücher in Alains Arbeitszimmerschienen kein gemeinsames Thema zu haben. Es machte den Eindruck, als habe er wahllos Hunderte Bände gesammelt und sie in die Regale gestellt. Alte Geschichtsbücher, politische Schriften, Lyrikbände und sogar eine Auswahl persönlicher Tagebücher. Die einzige Gemeinsamkeit war die, dass sie allesamt tödlich langweilig waren. In einigen Büchern hatte Alain gewisse Seiten mit Lesezeichen versehen und bestimmte Passagen eingekringelt oder unterstrichen. Zum Beispiel in Eminenz: Mein Leben mit Professor Carl von Hagen, dem Tagebuch eines Dienstmädchens namens Lily Lamont, hatte er folgenden Absatz angestrichen:

    19. Oktober 1925: Nach dem Tumult und der Aufregung der letzten Tage war mein Herr heute sehr ruhig. Er verbrachte den Tag in seinem Laboratorium und wies alle Nahrung und Getränke, die ich ihm anbot, zurück. Gegen Abend erschien er mit einem wilden und grausamen Ausdruck in seinen Augen. Er murmelte etwas über die »finsterste Seite«, nahm seinen Hut und seinen Kapuzenmantel und verschwand in der dunklen Nacht. Danach sah ich ihn einige Tage lang nicht.

    Dies war etwas interessanter, aber Jonathan hatte nicht den blassesten Schimmer, was es bedeuten sollte. Er begriff auch nicht, welche besondere Bedeutung einem schmalen Buch mit dem Titel Die kriminelleSchattenseite des viktorianischen Britanniens zukam, das mit Lesezeichen gespickt war. Dem Datum auf der Innenseite des Umschlags folgend, war es 1891 von einem Mann namens Jacob Entwistle geschrieben worden, und Jonathan fragte sich, was für einen Sinn es ergeben sollte, so etwas zu lesen. Trotzdem hatte Alain auf Seite neunundsiebzig folgenden Absatz unterstrichen:

    In den stinkenden Tiefen des Pentonville-Kerkers im Londoner Norden begegnete ich einem besonders erbärmlichen Individuum namens Robert Torbury, einem Taschendieb und Kleinkriminellen. Er vegetierte bereits etliche Jahre hinter Gittern und hatte infolgedessen langsam seinen Verstand verloren. Als er mich erblickte, griff er nach meiner Kleidung und flehte mich an, ihm zu helfen. Er wurde

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