Die Schattenwelt
nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er wollte zwar das Haus aufräumen, aber in der Hauptsache ging es ihm um das Arbeitszimmer seines Vaters. Nach all den Jahren war nun endlich die Gelegenheit gekommen, es ausgiebig zu erforschen. Allein der Gedanke daran ließ sein Herz schneller schlagen.
Das Haus sah nach wie vor etwas baufällig aus, aber es wirkte nicht so unheilvoll wie in der vergangenen Nacht. Auf gar keinen Fall würde ein Einbrecher es wagen, bei Tageslicht hierher zurückzukehren, schienen die Fenster Jonathan zuzuflüstern, Einbrecher sind nun mal Feiglinge. Trotzdem beobachtete er sorgfältig die Straße, als er die Auffahrt hinaufging. Zu dieser frühen Tageszeit war es sehr ruhig, und die einzigen Menschen, die er sah, waren ein älteres Paar, das vermutlich einkaufen gehen wollte, und ein Au-pair-Mädchen, das einen Kinderwagen schob.
Jonathan betrat das Haus und vergewisserte sich zwei Mal, dass er die Eingangstür hinter sich abgeschlossen hatte. Um sich nicht so einsam zu fühlen, legte er in seinem Zimmer eine seiner Lieblings-CDs ein und drehte die Musik auf. Er versuchte, ruhig zu bleiben, und beschäftigte sich zunächst mit einfachenAufgaben: den Müll hinaustragen und das Geschirr spülen. Schließlich, ohne dass es ihm bewusst war, stand er plötzlich vor der Tür des Arbeitszimmers. Er versuchte, den Kratzspuren keine Beachtung zu schenken, holte tief Luft, schloss die Tür auf und trat ein.
Im Zimmer war es dunkel. Die Fensterläden waren geschlossen und nur vereinzelte schwache Lichtstrahlen drangen hindurch. Ein modriger Geruch erfüllte das Zimmer, als ob seit Jahren nicht mehr gelüftet worden wäre. Jonathan ging durch den Raum, öffnete das Fenster und stieß die Fensterläden auf. Sonnenlicht und frische Luft durchfluteten das Zimmer und er fühlte sich schlagartig besser.
Das Arbeitszimmer war in jeglicher Hinsicht die letzten Jahre Alains Welt gewesen. Hier arbeitete er, nahm seine Mahlzeiten zu sich und schlief oft ein. Während Alain in aller Stille in seinen Bücher blätterte, schlich Jonathan wie ein Geist durch die restlichen Räume des Hauses. Wenn er mit seinem Vater sprechen wollte, musste er dreimal an die Tür klopfen. Wenn Alain den Raum verließ, schloss er eilig die Tür hinter sich ab, um zu vermeiden, dass sein Sohn auch nur einen Blick hineinwerfen konnte.
Wenn Alain den Raum aus eigenem Antrieb verließ – um auf die Toilette zu gehen oder um sich etwas zu Trinken zu holen – und mit Jonathan zusammentraf, nickte er ihm kurz zu.
»Hallo, Sohn. Alles in Ordnung?«
»Alles okay.«
»Gut. Weiter so.«
Danach schlüpfte er wieder durch die Tür und schloss sie hinter sich ab.
Jonathan hatte sich mit seinen ungewöhnlichen Familienverhältnissen abgefunden. Er war selbst nicht sonderlich gesprächig und für alle praktischen Probleme des Alltags gab es immer Miss Elwood. Er hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, alles wäre wunderbar und er würde sich nicht wünschen, dass seine Mutter noch da wäre oder dass Alain sich ein wenig mehr wie ein normaler Vater verhalten würde. Aber so liefen die Dinge nun mal. Er kam zurecht.
Nun aber war er hier – hier im privaten Heiligtum seines Vaters, und es fiel ihm schwer, nicht dem Drang nachzugeben, den Raum zu verwüsten, der seinen Vater so lange von ihm ferngehalten hatte. Nüchtern betrachtet, war dies ein unspektakulärer Ort. Die Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen, überladen mit alten, schweren Büchern, die auch den Rest des Hauses bevölkerten. Zwischen den Regalen hingen vergilbte Zeitungsausschnitte mit reißerischen Schlagzeilen wie: » ZWEI MENSCHEN STERBEN BEI HORROR-HAUSEINSTURZ «, » GRAUENHAFTER DIEBSTAHL IN BLUTBANK «, und » LONDONER WOLFSMENSCH WIEDER GESICHTET! «.
Links neben Jonathan stand der schwere Holzschreibtisch, den er letzte Nacht vor die Tür geschoben hatte. Er versuchte, ihn an seinen Platz zurückzuschieben, aber ohne panischen Adrenalinschub konnte er ihn kaum bewegen. In dem Chaos waren zahllose Papierfetzen zu Boden gefallen und überall lagenBleistifte und Kugelschreiber herum. Was auch immer Jonathan erwartete hatte – vielleicht eine Art Verließ mit Ketten an der Wand und einer Folterbank in der Mitte –, dies hier war es nicht.
Während er seinen Blick über die Regale schweifen ließ, fiel ihm ein gerahmtes Foto auf. Er nahm es in die Hand und betrachtete es genauer. Es war das Bild eines jungen Paares, das die Arme umeinander geschlungen
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