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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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fortgestoßen und rief mir unzusammenhängende, wirre Worte hinterher. Er sei dazu verdammt worden, in der Finsternis zu hausen. Während er wimmerte, fragte ich mich, welch geistig gesunder Mensch sich diesen Mann anhören und immer noch glauben könne, dass das Rechtssystem des britischen Reichs das gerechteste der zivilisierten Welt sei …

    Jonathan klappte das Buch mit einem dumpfen Schlag zu und eine Staubwolke breitete sich aus. Dies brachte ihn alles nicht weiter. Er widmete seine Aufmerksamkeit den Papierfetzen auf dem Boden. Sie waren vollgekritzeltmit Alains wirren Gedanken. Glücklicherweise waren die meisten von ihnen mit einem Datum versehen, sodass Jonathan sie innerhalb von zehn Minuten in eine gewisse chronologische Reihenfolge bringen konnte. Die letzte Niederschrift hatte er an dem Tag, an dem ihn die »Finsternis« überkam, getätigt. Es waren nur ein paar Worte: »Eine Kreuzung? Ich muss nun nahe dran sein«.
    Darunter stand der Name eines Buches – Der finstere Abstieg – und eine Seitenzahl, der ein Zahlenschlüssel folgte, in dem Jonathan die Referenznummer einer Bibliothek erkannte. Jonathan spürte eine leichte Erregung in sich aufsteigen. Könnte dieses Buch in irgendeinem Zusammenhang mit den dunklen Geheimnissen stehen, die Alain jahrelang verfolgt hatte? Er war sich nicht sicher, aber eines wusste Jonathan genau – er musste dieses Buch in die Finger bekommen. Und es gab in London nur einen Ort, an dem er es finden würde.

5
    Die U-Bahn-Wagen der nördlichen Linie knarzten grimmig, während sie sich unter den Straßen und Häusern Londons voranarbeiteten. An der Oberfläche war es frisch und bewölkt, aber hier unten im Tunnel war die Luft drückend schwül und das Licht der Neonröhren schmerzte in Jonathans Augen. Obwohl es bereits später Vormittag war und alle Angestellten längst ihre Büros erreicht hatten, waren die Wagen immer noch mit Menschen überfüllt, und sein Gesicht befand sich unangenehmerweise auf selber Höhe wie die Achselhöhle eines übergewichtigen Touristen. Jonathan blickte zum Linienplan an der Decke auf und zählte, wie viele Haltestellen er noch aushalten musste, bis er seinem stickigen Gefängnis entkommen konnte.
    Der Papierfetzen, den er aus Alains Büro genommen hatte, befand sich sorgsam gefaltet in seiner Jeanstasche. Von Zeit zu Zeit ließ er seine Finger in die Tasche gleiten, um sich zu vergewissern, dass der Zettel noch da war. In dem Moment, da er ihn gelesen hatte, war ihm klar geworden, wo er hingehen musste. Jonathan kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er Der finstere Abstieg nicht in seiner Stadtteilbüchereifinden würde. Dieses Buch würde nicht zwischen billigen Kriminalromanen und Liebesschnulzen stehen. Es war wesentlich wahrscheinlicher, dass Alain der einzige Mensch war, der je dieses Buch lesen wollte. Nein, es gab nur einen Ort, an dem er seine Geheimnisse ergründen konnte: die britische Nationalbibliothek.
    Wenn es einen Aspekt des Lebens gab, den Alain versucht hatte, seinem Sohn nahezubringen, so war es das Lesen. Jonathan hatte einige frühkindliche Erinnerungen, wie er mit einem großen Buch auf dem Schoß seines Vaters saß und über die lustigen Bilder lachte. Alain schien es mehr zu behagen, sich mit erfundenen Welten und fantastischen Geschichten auseinanderzusetzen als mit der realen Welt. Er besuchte mit Jonathan regelmäßig Bibliotheken in ganz London und sorgte dafür, dass er für alle Bibliotheken Ausweise hatte. Sie saßen oft Seite an Seite an einem der langen Lesetische, und Jonathan ahmte die Art nach, wie sein Vater behutsam die Seiten umblätterte. In all den Jahren waren sie sich nie wieder so nahe gekommen.
    Mit kreischenden Bremsen hielt die U-Bahn abrupt an, Jonathan verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen den übergewichtigen Touristen. Der schrie erschrocken auf und konnte gerade noch seinerseits das Gleichgewicht halten.
    »Tschuldigung«, murmelte Jonathan.
    Der Tourist warf ihm einen kurzen, bösen Blick zu und starrte wieder ins Leere.
    Nach den längsten zehn Fahrminuten, die Jonathan je erlebt hatte, fuhr der Zug in die Haltestelle King’s Cross ein. Diejenigen, die ausstiegen, wurden wie Herdenvieh in Richtung der drei Drehkreuze am Ausgang geschoben, die nicht einmal annähernd ausreichten für die Masse an Leuten, die zum Ausgang drängte. Schiebend und fluchend, versuchten sich die Menschen an die Spitze der Menge zu kämpfen. Jonathan wartete zitternd vor Ungeduld im

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