Die Schattenwelt
Computer in der Nähe des Lesetisches eintippen. Die Bibliothekarinnen holten es dann aus dem Lager. Jonathan stellte sich gerne vor, dass es tief im Londoner Untergrund ein riesiges Bücherlabyrinth gab, unzählige Höhlen, die von Bibliothekarinnen mit mächtigen Taschenlampen und Waffen durchsucht wurden. Wenn sein Buch gefunden war, leuchtete ein Lämpchen an dem Lesetisch auf. Man wusste aber nie genau, wie lange das dauern würde. Man musste einfach warten. Jonathan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und döste ein.
Plötzlich schreckte er hoch. Der Raum hatte sich, als er geschlafen hatte, mit Menschen gefüllt, und alle Plätze um ihn herum waren besetzt. Er hoffte, dass er nicht geschnarcht hatte. Das Lämpchen an seinem Tisch leuchtete, und Jonathan ging hinüber zum Schalter, um sein Buch abzuholen. Der ältliche Bibliothekar musterte Jonathan von oben bis unten, als ersein Anliegen vorbrachte, und legte ein unscheinbares schwarzes Buch auf die Theke. Dann zog er eine Liste hervor und überreichte Jonathan einen Stift.
»Du musst hier unterschreiben.«
»Das musste ich noch nie.«
Der Bibliothekar antwortete nicht und klopfte lediglich mit dem Stift auf die Liste. Auf ihr standen bisher nur drei Unterschriften, von denen die erste von einem gewissen Horace Carmichael aus dem Jahr 1942 stammte. Jonathan ergänzte seinen Namen und ging zurück zu seinem Stuhl. Der Bibliothekar beachtete ihn schweigend.
Nun, da er das Buch in seinen Händen hielt, spürte Jonathan die Aufregung in sich hochsteigen. Er widerstand dem Drang, sofort die Stelle aufzuschlagen, die sein Vater notiert hatte, und blätterte zunächst die Seiten des Buches durch. Die Einleitung besagte, dass Der finstere Abstieg von einem Mann namens Raphael Stevenson geschrieben worden war. Im viktorianischen Zeitalter war er ein berühmter Entdecker gewesen. In seiner Jugend war er in die entlegensten Winkel der Welt gereist, er war dort fremden Volksstämmen begegnet und hatte mit wilden Tieren gekämpft. Allerdings verlor Stevenson mit Mitte vierzig den Verstand und wurde in eine Irrenanstalt eingeliefert. Die Seite, auf die Alain sich bezog, befand sich am Ende des Buches, wo die Handschrift bereits eigenartig krakelig geworden war:
Als ich von meinen Reisen auf dem indischen Subkontinent zurückkehrte, verfiel ich in eine stumpfe Lethargie, die dazu führte, dass ich tagelang benommen und apathisch im Bett lag. Zunächst vermutete ich, dass mich eine Art fremder Virus befallen hätte, doch dann stellte ich fest, dass mir lediglich die täglichen Aufregungen und Gefahren, die ich im Ausland erlebt hatte, fehlten. An einem nebligen Abend gelang es mir schließlich, mich aus meinem Dämmerzustand zu befreien, und fortan verbrachte ich meine Nächte mit der Suche nach … der Finsternis.
Meine nächtlichen Wanderungen führten mich immer tiefer in das schwarze Herz Londons, wo die Frauen wie Hühner gackernd vor den Häusern standen und Männer mit finsteren Absichten sich in den Eingängen verbargen. Mehr als einmal war ich zutiefst dankbar, dass ich meinen robusten Spazierstock bei mir hatte. Trotzdem habe ich mich nach einiger Zeit an das ruchlose Wesen dieser Gegend gewöhnt und ich sah mich imstande, mit ihren Bewohnern zu sprechen.
Zunächst erweckten meine Kleidung und mein Benehmen Argwohn, aber allmählich begannen die Menschen, sich mir gegenüber zu öffnen. Ich wendete etliche Schillinge auf, um Drinks in billigen Spelunken zu kaufen, in dem Versuch, den schändlichsten Kreaturen Londons Informationen zu entlocken. Aber wann immer ich das Gesprächauf die Finsternis und die Frage, wo ich sie finden könne, lenkte, schenkten sie mir einen kurzen, bedeutungsvollen Blick und verfielen in Schweigen. Manchmal begann einer von ihnen zu erzählen, jedoch wurde er sofort von den anderen zum Schweigen gebracht. Je öfter ich mit den Leuten sprach, desto fester wurde meine Überzeugung, dass es eine Art teuflische Einöde geben müsse, hier in unserer Hauptstadt, dem prachtvollen Grundstein des britischen Imperiums.
Meine unaufhörlichen Erkundungen erbrachten keinerlei Resultate, und ich stand kurz davor, meine Suche zu beenden, als ich einer jungen Dirne namens Molly in einer verkommenen Ecke von Clerkenwell nördlich der Themse begegnete. Sie reagierte wohlwollend auf meine freundlichen Worte und versprach, mir den Weg in eine Gegend Londons zu weisen, die ich, so schwor sie, niemals zuvor zu Gesicht bekommen hätte.
Unsere
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