Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
Vom Netzwerk:
Route folgte einer gewissen Willkür, geprägt von aller Art Richtungswechseln und Umwegen. Als ich sie deswegen befragte, sah sie mich ernst an und erklärte mir, dass wir dem Weg des Fleet folgten. Der Fleet! Ein fauliger, giftiger Nebenfluss, dessen widerwärtige trübe Wasser vor Jahrzehnten zugemauert worden waren. Ich fragte Molly, wie sie immer noch seinen Verlauf folgen könne, und sie antwortete: »Ich kann fühlen, wie er in meinen Adern pulsiert.«

    Während wir schnellen Schrittes die Themse entlangliefen, schlug ihre Stimmung abrupt um, sie wurde sehr unruhig, flehte mich an, umzudrehen und nach Hause zu gehen. Ich blieb hart und wir traten an der Stelle aus dem Schatten der Blackfriars-Brücke, an der der Fleet in die Themse mündet. Die Ebbe hatte ihren Tiefpunkt erreicht, und wir stiegen zum Flussbett hinab, wo Molly mir den geöffneten Schlund des Übergangs zur Finsternis zeigte. Sie fiel wimmernd auf die Knie und bat mich flehentlich, nicht hindurchzugehen, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wäre ich ihrem Rat gefolgt …

    Jonathan ballte seine Faust. Das war es, wonach Alain gesucht hatte! Und jetzt hatte er es auch gefunden. Er kritzelte die Einzelheiten auf ein Stück Papier.
    An einem Tisch neben ihm seufzte eine Frau laut, während sie die Seiten ihres Buches umblätterte. Sie trug einen schneeweißen Hosenanzug und hatte leuchtend violett gefärbte Haare. Als Jonathan sich zu ihr umdrehte, trafen sich ihre Blicke, und sie lächelte ihn an. Wie hypnotisiert vom hellen Schimmer ihrer blassen Haut starrte er sie an. Sie lächelte weiterhin, blickte verschwörerisch nach links und rechts, lehnte sich zu ihm herüber und streckte ihm die Hand entgegen. Ein Gefühl der Vertrautheit umgab sie, der Duft ihres Parfüms drang in seine Nase und vernebelte seinen Verstand.
    »Ich heiße Marianne«, flüsterte sie. »Mein Buch ist sehr langweilig.«
    »Oh, ich heiße Jonathan«, entgegnete er. Es entstand eine Pause. Es schien so, als erwartete sie, dass er etwas sagte.
    »Warum lesen Sie dann nicht ein anderes Buch?«
    »Es ist schön, dich kennenzulernen, Jonathan. Ich würde mir ein anderes Buch holen, aber es dauert so lange, eines zu bestellen, und ich muss bald gehen. Ist dein Buch interessant?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Kann ich einen Blick hineinwerfen?«
    Draußen wurde es langsam dunkel und der Regen trommelte im einschläfernden Rhythmus gegen die Fenster. In Jonathans Hinterkopf schrillten die Alarmglocken und mahnten ihn zur Vorsicht. Er war sich nicht sicher, ob es wirklich klug war, der Frau das Buch zu geben, aber aus irgendeinem Grund wollte er sie nicht enttäuschen.
    »Seien Sie vorsichtig. Es ist sehr alt.«
    Sie nahm ihm das Buch aus den Händen und runzelte die Stirn.
    »Und es ist schwer.« Sie beschnupperte den Umschlag. »Außerdem stinkt es.«
    Jonathan kicherte. Er war wirklich nicht er selbst. Vielleicht hatte es etwas mit ihrem Parfüm zu tun, das eine äußerst süßliche Note hatte.
    Neben ihm las Marianne bedächtig den Titel vor.
    » Der finstere Abstieg . Ich glaube, dein Buch ist definitiv interessanter als meines. Was für ein komischer Titel. Warum hast du es dir geholt?«
    Jonathan musste sich zurückhalten, damit die Antwort nicht laut aus ihm herausplatzte.
    »Ich … mein Lehrer hat gesagt, wir sollen es lesen. Das gehört zu unserem Geschichtsunterricht.«
    Sie kniff gespielt streng die Augen zusammen.
    »Jonathan, du lügst mich doch nicht an, oder? Das wäre sehr unhöflich, vor allem gegenüber einer Fremden. Man sollte Fremde nie belügen, weißt du.«
    Er zuckte wieder mit den Schultern. Vielleicht war es an der Zeit, von hier zu verschwinden. Ihr Blick streifte die Notiz, die er sich gemacht hatte, und sie starrte gebannt darauf.
    »Was hast du dir da aufgeschrieben? Sicherlich noch etwas für deinen ›Lehrer‹. Warum lässt du nicht Marianne einen kurzen Blick darauf werfen?«
    »Ich muss gehen.«
    Jonathan versuchte aufzustehen, aber Marianne packte ihn am Handgelenk. Er war überrascht, wie fest sie zugriff und wollte schreien, aber sie murmelte ihm leise beruhigende Worte zu, und es war nicht sonderlich beängstigend, wirklich nicht. Er konnte genauso gut ein wenig länger neben der Dame mit den violetten Haaren sitzen.
    »So ist es besser, nicht wahr?«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Und jetzt lass uns einen Blick auf deine Notizen werfen.«
    Jonathan blickte träumerisch vor sich hin,

Weitere Kostenlose Bücher