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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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oberste Stockwerk erreicht hatte. Er sog mit seiner langen Nase schnaubend die Luft ein, während er sich mit unruhigen Bewegungen in Jonathans Richtung drehte. Jonathan musste etwas unternehmen. Rasch eilte er an den Toiletten vorbei und wendete sich schutzsuchend in Richtung eines hellen Leseraums, über dessen Eingangstür die Inschrift »Landkarten« leuchtete. Als er darauf zuging, erschien der andere Scherge mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten am oberen Absatz der Treppe. Neben dem Eingang wies ein Schild die Leser darauf hin, dass im Kartenraum weder Taschen noch Stifte zugelassen waren. Ein kurzes Lächeln huschte über Jonathans Lippen.

    Vom Foyer aus suchte Marianne mit aufmerksamem Blick das oberste Stockwerk nach irgendwelchen Anzeichen eines Tumults ab. Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde alles genauso reibungslos ablaufen wie am Trafalgar Square, … aber dann hatte dieser Idiot sie angerempelt. Sie fluchte still vor sich hin. Nun musste sie sich darauf verlassen, dass Humble und Skeet den Jungen da rausholten, ohne dass die Behörden alarmiert wurden. Dass sie bisher noch nichtbemerkt worden waren, grenzte an ein Wunder. Marianne wusste, dass ihr spezielles Parfüm die Menschen ablenken konnte, aber die Wirkung hielt nur kurze Zeit an. Und sie hatte bereits beobachtet, wie ein Angestellter nachdenklich die Stirn runzelte, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern.
    Dann entdeckte sie Jonathan, der von einer Bibliothekarin die Treppe hinunter geführt wurde. Er grinste triumphierend. Humble und Skeet folgten ihm mit einigen Schritten Abstand und mussten tatenlos zusehen. Ein Sicherheitsmann näherte sich, aber die Bibliothekarin schüttelte den Kopf.
    »Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, entgegnete sie erschöpft.
    »Der ganze Aufstand nur wegen eines Stifts?«, protestierte Jonathan. »Ich kann nicht glauben, dass sie mich rausschmeißen, nur weil ich einen bescheuerten Stift bei mir habe!«
    »Du hast gedroht, die Karten damit zu beschmieren«, antwortete die Bibliothekarin. »Kostbare, antike Landkarten. Deshalb werfen wir dich raus. Und wir werden auch deinen Mitgliedsausweis einziehen.«
    Jonathan seufzte gespielt und händigte seinen Ausweis aus. Er nickte Marianne freundlich zu, marschierte durch den Ausgang und rannte in halsbrecherischem Tempo davon. Die Bibliothekarin drehte sich zu Marianne um.
    »Kinder! Ich weiß wirklich nicht, was Eltern sich heutzutage bei ihrer Erziehung denken.«
    Marianne nickte verständnisvoll. Die Bibliothekarin seufzte nochmals und trottete zurück zur Kartenabteilung.
    Sobald sie außer Sicht war, stürzte der kleinere Mann auf Marianne zu.
    »Willst du, dass Skeet das Küken verfolgt?«
    »Nicht nötig.« Marianne blickte hinaus auf den sich verfinsternden Himmel.
    »Wir wissen, wohin er geht.«

6
    Jonathan rannte weiter, bis er wieder King’s Cross erreicht hatte. Dieses Mal tauchte er dankbar in die Menschenmenge ein, die auf dem Bahnsteig wartete. Ihn hier zu suchen, wäre, als suche man nach der Nadel im Heuhaufen. Er musste nur eine Minute warten, bis ein Zug rumpelnd in den Bahnhof einfuhr, und während Jonathan sich in den Wagen zwängte, hielt er Ausschau nach eventuellen Verfolgern. Als die Türen sich schlossen, atmete er erleichtert auf. Er war entkommen.
    Ein paar Haltestellen später leerte sich der Zug allmählich. Jonathan setzte sich und dachte fieberhaft nach. Er wusste, dass er nach dem Übergang suchen musste, der in Stevensons Bericht beschrieben war, aber er konnte nicht einfach verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Wenn jedoch die Kidnapper aus der Bibliothek etwas mit dem Eindringling zu tun hatten, der in sein Haus eingebrochen war, war er auch dort nicht sicher. Sie waren möglicherweise schon da und erwarteten ihn. Er konnte auch zu Miss Elwood fahren, aber Jonathan bezweifelte, dass sie schon wieder zu Hause war, undihm gefiel die Vorstellung nicht, sich in ihrem Garten zu verstecken, bis sie kam. Die beste Lösung wäre gewesen, sich bei einem Freund zu verstecken, aber Jonathan hatte keine Freunde.
    Nein, es gab nur einen Ort, an den er sich begeben konnte. Jonathan verließ die U-Bahn zwei Haltestellen vor seinem Zuhause und marschierte zügig zur Bushaltestelle an der Hauptstraße. Er wusste, dass er von dort zum Krankenhaus fahren konnte.

    Der Bus folgte einer langen, verschlungenen Route, die durch jede Seitenstraße Londons zu führen schien. Die Straßenbeleuchtung in den

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