Die Schattenwelt
Rücken. Er tat dies etwas zu kraftvoll für eine freundschaftliche Geste. Luther kippte vornüber, riss an den Zügeln und brachte die Kutsche zum Stehen. Wütend drehte er sich um.
»Du solltest mich nicht stoßen, Hundegesicht. Wenn du so weitermachst, schaffst du es nicht bis zu Vendetta.«
Der bullige Wermensch lachte. »Blödsinn! Wir sind fast da. Fahr weiter. Du willst ihn doch nicht warten lassen, oder?«
Luther bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und trieb widerwillig die Pferde an. Die Kutsche schlängelte sich zügig durch die kurvigen Straßen von Savage Row, und Jonathan bemerkte, dass der Weg schmaler und steiler wurde. Sie hatten die Herrenhäuser hinter sich gelassen. Zu beiden Seiten der Straße bildeten hoch aufragende Bäume ein finsteres Spalier. Die Luft wurde kälter und Jonathan legte sich eine Decke über die Beine. Carnegie lächelte ihn grimmig an und schwieg. Er wirkte angespannt.
Die Straße wurde abrupt wieder flacher und mündete in einer breiten Allee. Die Bäume waren nun sohoch, dass sie die blasse Sonne nahezu vollständig verdeckten. Nichts bewegte sich und außer dem Klappern der Pferdehufe auf den Pflastersteinen war kein Geräusch zu hören. Die Allee führte zu einem imposanten Steintor, um das sich der Griff der grünen Efeuranken immer fester schloss. Hinter dem Tor erwartete sie Vendetta Heights.
Es war ein weitläufiger, Ehrfurcht einflößender Bau. Das alte Ziegelwerk war umhüllt von Moos und Schatten. Die Reihen seiner elegant geschwungenen Fenster blickten erhaben herab. Wasserspeier hockten auf der Dachtraufe und ihre steinernen Fratzen waren zu einem immerwährenden Grinsen verzogen. Am Ostflügel des Haupthauses wand sich ein schlanker Turm in den Himmel. Nirgendwo brannte Licht, sodass das Gebäude wie ein antikes Grabmal wirkte.
Als die Kutsche sich dem Tor näherte, tauchten zwei dunkle Gestalten auf dem Grundstück auf und öffneten es. Anschließend verbargen sie sich rasch im Unterholz, als fürchteten sie sich davor, aus der Nähe betrachtet zu werden. Die Kutsche rollte die lang gezogene Auffahrt entlang und umrundete einen kunstvoll verzierten Brunnen, an dessen Spitze die Statue eines weinenden Kindes thronte. Das Wasser spritzte aus den Augen der Figur und plätscherte sanft in das Becken zu ihren Füßen.
»Vendetta erwartet euch im Glashaus«, murmelte Luther, als er die Kutsche zum Stehen brachte. »Es befindet sich hinter dem Haus.«
Er bedachte Carnegie abermals mit einem finsteren Blick, den dieser mit einem Grinsen erwiderte.
»Es war mir ein Vergnügen, Luther.«
Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Der Farbe des Himmels nach zu urteilen, war es später Nachmittag. Jonathan hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Zeit schien in Darkside ohnehin bedeutungslos zu sein. Man war immer nur fünf Minuten von den nächsten Schwierigkeiten entfernt, und das war das Einzige, was zählte. Luther fuhr mit der Kutsche fort, Jonathan und Carnegie folgten einem Weg, der um Vendetta Heights herum führte. Die Ländereien, die sich hinter dem Haupthaus erstreckten, boten einen ebenso beeindruckenden Anblick wie das Gebäude selbst. Sie schienen sich über etliche Hektar auszudehnen und grenzten an einen kleinen Wald, der augenscheinlich das Ende des Anwesens markierte. Irgendjemand hatte viel Zeit und Mühe auf die Pflege des Rasens verwendet. Er glich einem makellosen grünen Teppich und war durchzogen von einem Geflecht aus Kiespfaden, die die verschiedenen Teile des Anwesens miteinander verbanden. In der hintersten Ecke des Rasens formten dunkelgrüne Heckenreihen ein aufwendig gestaltetes Labyrinth. Trotz ihrer Schönheit wurde die Szenerie von einer beängstigenden Stille beherrscht, die Jonathan erschaudern ließ. Kein Laut war zu hören, weder das Zwitschern eines Vogels noch das Rascheln eines Tieres im Unterholz. Carnegie nutzte die Gelegenheit, beugte sich zu Jonathan und flüsterte ihm ins Ohr.
»Vendetta ist ein Bankier und der reichste Mann von Darkside. Er ist auch einer der gefährlichsten Männer. Ich weiß nicht, warum wir hier sind, aber wir stecken vermutlich in Schwierigkeiten. Verhalt dich ruhig und sag nichts, Junge. Und wenn ich ›Jetzt‹ rufe, dann rennst du weg. Sofort.«
Jonathan nickte. Dem hatte er nichts hinzuzufügen.
Das Glashaus war ein runder Bau, der sich einsam auf einem Plateau etliche Meter unterhalb des Haupthauses befand. Als sie zu ihm hinabstiegen, bemerkte Jonathan eine Gestalt, die lässig
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