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Die Schicksalsgabe

Die Schicksalsgabe

Titel: Die Schicksalsgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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unsere Gastfreundschaft genießt, werde ich dir, so gut ich kann, unsere Sitten und Gebräuche erklären, die dir zweifellos merkwürdig vorkommen dürften.«
    Edler Fischreiher nahm die Einladung gnädig an. Während seine Diener sein Zelt aufstellten, gesellte sich Primo zu Sebastianus und sagte leise: »Ich traue diesem Mann nicht.«
    »Wieso nicht?«, gab Sebastianus ebenso leise zurück.
    »Irgendetwas an dem Überfall vorhin war merkwürdig. Seit Wochen, genauer gesagt seit wir das Gebiet, das von chinesischem Militär kontrolliert wird, betreten haben, sind wir nicht mehr von einheimischen Wegelagerern behelligt worden. Sämtliche Stämme und Ansiedlungen in dieser Region waren Vasallen des Kaisers. Wieso dann dieser Überfall in allernächster Nähe der Hauptstadt? Hätten sie nicht sehen müssen, wie dieser Bursche und sein enormes Gefolge die Straße entlangzog und ihn eindeutig als Abgesandten des kaiserlichen Hofs ausgemacht?«
    »Demnach war das inszeniert«, folgerte Sebastianus, »um unsere Stärken und Schwachstellen abzuschätzen und in Erfahrung zu bringen, ob wir in Frieden oder als Eroberer kommen. Ab sofort ist größte Vorsicht geboten. Vermutlich stehen uns weitere Prüfungen bevor.«
    Der kaiserliche Beamte blieb über Nacht, nahm das ihm von seinen persönlichen Dienern servierte Essen abseits der Mitglieder der Karawane ein. Bei Tagesanbruch wurde das Lager aufgelöst, und Sebastianus, neben sich Edler Fischreiher, der jetzt eine hübsche fuchsbraune Stute ritt, führte den schier endlosen Zug von Kamelen, Eseln, Pferden und Wagen den Gebirgspfad hinunter.
    Vor dem Aufbruch hatte Timonides noch das Horoskop seines Meisters gedeutet, Edler Fischreiher dagegen Weihrauchstäbchen entzündet, um den Hütern der Vier Winde Respekt zu zollen: der Schnecke und der Schildkröte im Norden, dem Kardinalsvogel im Süden, dem grünen Drachen im Osten, dem weißen Tiger im Westen. Jetzt, da sie talwärts zu fruchtbaren Ebenen und großen Bauernhöfen unterwegs waren, erzählte Edler Fischreiher von dem Mann, den man den Herrscher Über Alles Unter Dem Himmel nannte.
    Sebastianus erfuhr, dass der Throninhaber, der dreißigjährige Kaiser Ming, eine Lieblingsfrau habe, die Gemahlin Ma, eine bildhübsche Frau von nicht einmal zwanzig Jahren. Mings Mutter, die noch immer durch ihre Schönheit beeindruckende Kaiserliche Witwe Yin, sei etwa Mitte fünfzig und bekannt für ihre Sanftmut. Der Kaiser selbst werde für seine Großherzigkeit und Zuneigung für seine Familie gerühmt; er halte sich an den moralischen und ethischen Kodex des Großen Weisen, respektiere aber darüber hinaus die vielen hundert Götter des taoistischen Glaubens und beweise, wie es hieß, höchstes Interesse für die Religionen und Glaubensrichtungen von Fremden. »Der Herrscher Über Alles Unter Dem Himmel«, sagte Edler Fischreiher, »würde sich freuen, etwas über die Götter von Li-chien zu erfahren.«
    Luoyang, im Flachland zwischen dem Mang-Gebirge und dem Luo gelegen, war eine rechteckig angelegte Stadt, umgeben von hohen steinernen Wällen und einem Festungsgraben mit Zugbrücken. Auf dem Fluss drängten sich Boote, die, wie Sebastianus bereits wusste, Dschunken und Sampans hießen und sich als schwimmende Häuser aneinanderreihten. Die Landschaft in der näheren Umgebung der Stadt war von Ackerland durchzogen, auf dem Bauern gelbes Erdreich umpflügten, das der Wind aus den nordöstlichen Wüsten herüberwehte. Natürlich unterbrachen sie ihre Arbeit und staunten über die ungewöhnliche Prozession, die da an ihnen vorbeizog; aus Hütten kamen Frauen herbeigeeilt, um die vielen Kamele und Pferde und Lasttiere zu betrachten, aber noch mehr die Männer, die die Karawane zu Fuß begleiteten und je nach Stammeszugehörigkeit unterschiedlich gekleideten waren.
    Zu beiden Seiten der wuchtigen steinernen Tore hatte sich eine Menschenmenge eingefunden, kaum dass bekannt geworden war, dass eine höchst bemerkenswerte Karawane auf dem Weg war, dem Kaiser Reverenz zu erweisen. Spannung lag in der Luft. Jeder sah dem großen Fest entgegen, mit dem dieses außergewöhnliche Ereignis begangen werden sollte.
    Die Bewohner von Luoyang präsentierten sich in farbenfrohen Gewändern aus allen möglichen Stoffarten – von Hanf bis Seide – und in allen Schattierungen des Regenbogens: die Bessergestellten in leuchtenden Roben, Bauern und Kaufleute in Hosen und Tuniken. Sebastianus indes achtete mehr auf die Wachen, die die sechzehn hohen

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