Die Schicksalsgabe
kaiserliche Audienzsaal war weitläufig. Ein Säulenwald durchzog ihn, in Abständen sah man hoch aufragende Statuen, die mit Gold beschlagen und kostbaren Steinen geschmückt waren, dazu ein wie Glas spiegelnder Marmorfußboden. Eine schier unübersehbare Menge drängte sich hier, teils in römischen Togen, teils in Uniformen oder fremdländischen Gewändern: Staatsmänner und Senatoren, Beamte und ausländische Würdenträger, Botschafter und Prinzen. Man sah Kuriere, erkenntlich an ihren geflügelten Botenstäben, hin und her eilen, Sekretäre, die auf Wachstafeln und Papyrus kritzelten, Höflinge, die sich in Verbeugungen und Demutsgesten ergingen, Sklaven und Diener – der Lärm, den sie veranstalteten, stieg zu der hohen Decke empor, wo glitzernde Mosaiken in Gold und Silber vom Prunk und der Majestät der Cäsaren kündeten.
Als Sebastianus erkannte, dass sie in dem Thronsaal gelandet waren, in dem Claudius Besucher und Würdenträger aus anderen Ländern empfangen hatte – obwohl die Sicht auf den Thron und den neuen Cäsar durch die vielen Menschen versperrt war –, wandte er sich an den Hauptmann der Prätorianer: »Warum habt ihr uns zum Kaiser gebracht?«, fragte er, weil seines Wissens nach Feinde von Claudius verhaftet und sofort ins Gefängnis geworfen oder exekutiert worden waren. Eine Audienz beim neuen Cäsar war noch keinem gewährt worden.
Der Hauptmann gab keine Antwort, sondern sah starr geradeaus, so als wartete er auf ein Zeichen.
Timonides, der neben seinem Herrn stand, vergaß vorübergehend seine Angst, als er die Speisen sah, die auf Platten an ihnen vorbeigetragen wurden. Für wen war dies alles bestimmt und warum wurde so manche Platte unberührt wieder zurück in die Küche getragen? Nestor wiederum grinste und kicherte beim Anblick der bunten Menge.
Primo der Kriegsveteran beobachtete das Geschehen eher gelassen. Er wusste, dass Botschafter und Gesandte vorstellig wurden, wenn es darum ging, Abkommen zu schließen oder aufzukündigen, und dass viele der hier Anwesenden gekommen waren, um eine Gunst zu erbitten, dem Kaiser zu schmeicheln, ihn mit Lob zu überschütten oder ihm den kaiserlichen Hintern zu küssen, und dass nichts, was heute vereinbart wurde, in hundert Jahren auch nur einen Pfifferling wert sein würde. Hier konnte er nichts ausrichten, was seinem Herrn helfen würde.
Mit einem unguten Gefühl sah sich Ulrika um. Auch sie fragte sich bang, warum man sie zum Kaiser gebracht hatte.
Auf einmal, zwischen zwei Würdenträgern in dem charakteristischen Gewand und Kopfschmuck der Parther, entdeckte sie eine Frau, die ihr bekannt vorkam. Doch ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, ihre Arme und Hände waren blutbefleckt. Es war dieselbe Frau, die Ulrika damals, mit zwölf, bei einem Ausflug aufs Land erschienen war! Warum bist du hier?, bedeutete sie stumm der Geistererscheinung. Warum spukst du ausgerechnet hier herum?
Als sie merkte, wie ihr Herz raste und ihr Atem schneller ging, presste sie die Hand auf die Brust und versuchte, sich zu beruhigen. Wenn sie ihre Visionen nicht länger als etwas Beklemmendes ansehen, sondern versuchen wollte, sie auf irgendeine Art zu steuern, musste sie als Erstes ihre Angst überwinden …
Ihr Atem stockte.
Deine Lungen atmen hastig …
Minervas seltsame Botschaft! Besagte sie also doch etwas? Während ihre Begleiter ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten, konzentrierte sich Ulrika auf ihren Atem und zwang ihn und damit sich selbst zur Ruhe. Alsbald vernahm sie ein Flüstern – ein leises Raunen, kaum zu hören im Lärm des Marmorsaals. Sie schaute sich um – waren da weitere Erscheinungen? Was versuchten sie ihr zu sagen? Und dann erstarb das Geflüster, und die verängstigte Frau löste sich langsam vor ihren Augen auf.
Eine freudige Erregung erfüllte Ulrika. Sie hatte ein wenig Kontrolle über ihre Gabe gewonnen. Das war es, was die Göttin ihr gesagt hatte: Es galt, sich ihrer Atmung bewusst zu werden, bevor sie ihre Gabe als Mittlerin richtig einsetzen konnte. Minerva war ihre erste Lehrmeisterin gewesen!
In diesem Augenblick erwachte der prätorianische Hauptmann aus seiner Starre, grunzte seinen Wachen einen Befehl zu, und die Neuankömmlinge wurden vorwärtsgeschubst.
Da niemand den Weg freimachte, mussten sie sich durch Gruppen von Männern, vereinzelt aber auch an Frauen vorbeidrängeln, die allesamt gelangweilt, ungeduldig oder hoffnungsvoll darauf warteten, zum neuen Kaiser vorgelassen
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