Die Schicksalsleserin
Augenblicke verstrichen. Erleichtert stellte die Wahrsagerin fest, dass niemand kam. Wolfram hatte sich sicher geirrt oder gelogen. In jedem Fall war sie dieser Spur nachgegangen und hatte sich bemüht. Schließlich war es nicht ihre Schuld, wenn hier niemand war! Allein die nagende Sorge um Anna ließ Madelin noch ein Weilchen länger ausharren.
Sie wandte sich schon zum Gehen, da klapperte der Riegel an der Tür. Ein hölzernes Ratschen, dann knarrten die Angeln. Innen
war es nur wenig heller als draußen. Eine Kerze musste sich hinter der Gestalt befinden, die an der spaltbreit geöffneten Tür stand. So sah die Wahrsagerin nur einen großen Schatten.
»Was willst’?«, grollte die Gestalt.
Madelin fasste das Holz in ihrer Hand fester. »Ich will mit dem Henkersmann sprechen. Bist’ der Freymann?«
Nach einer Pause, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, lachte der Mann. »Komm rein«, sagte er. Er öffnete die Tür weiter. Dann drehte er sich um und folgte dem schmalen Gang, der zu einer Treppe ins Obergeschoss führte. Doch der Mann ging nach rechts in die Kammer und verschwand damit aus Madelins Blickfeld. Nun lag der Gang vor ihr. Eine einsame Kerze hing an einer Halterung an der Wand. Die Wahrsagerin griff in die Gürteltasche und wünschte sich, sie hätte die Karten doch mitgenommen. Franziskus hatte die letzten drei Tage über dem Spiel zugebracht und versucht, noch weitere Hinweise herauszulesen. Er hatte nichts gefunden, was sie weitergebracht hätte. Trotzdem hatte sie die Karten bei diesem Gang nicht bei sich führen wollen, um nicht zu riskieren, dass sie den falschen Leuten in die Hände fielen. Doch jetzt fühlte sie sich beinahe nackt ohne sie. Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel und betrat das Haus des Henkers.
Ein kühler Windstoß folgte ihr und brachte die Kerze an der Wand beinahe zum Erlöschen. Madelin fuhr ein Schauer über den Rücken. Als Kind hatte sie so viel Übles über den Henkersmann und sein verfluchtes Haus gehört. Sie hütete sich, hier irgendetwas zu berühren. Daher ließ sie die Eingangstür offen und lugte in die Öffnung, die sich rechts vom Flur befand.
Stufen führten hinunter in eine Kammer, die zumindest halb unter der Erde liegen musste. Von Kräuterduft angereicherte Luft schlug ihr entgegen. Lavendel und Rosmarin konnte sie
herausriechen, doch da waren noch viele andere Gerüche, die sie nicht zuordnen konnte. Schritt für Schritt ging Madelin die Stufen hinunter, jeder einzelne kostete sie mehr Überwindung als der letzte. Sie hielt den Blick beständig auf das schummerige Licht gerichtet, das unten vor ihr flackerte. Dann erreichte sie ebenen Boden. Sie krampfte die Hand um ihren Knüppel.
Die Kammer besaß winzige Fenster unterhalb der Decke und war von einer einzelnen Fackel erleuchtet. An den Balken hingen Kräuterbüschel zum Trocknen, ihre Düfte vermischten sich zu einem erdigen Geruch. Auf einem Holztisch fanden sich Lederbeutel, daneben einige flach ausgelegte Lederstücke, die mit Zutaten belegt waren, die aus Madelins schlimmstem Alptraum entsprungen schienen. Sie sah Kräuterzweige, einzelne Zähne, in einem gar ein verschrumpeltes Ohr. Gelbe Bröckchen erklärten den stechenden Schwefelgeruch, der sich nun unter die Kräuteressenzen mischte. Schwarzes Pulver war mit dunklen Tropfen - vermutlich Blut - zu einem unheilvollen Brei vermischt. Madelin hatte davon gehört, dass Henkersleute aus den Körperteilen der gerichteten Verbrecher zauberkräftige Mittel zubereiteten, doch sie hatte das stets für allzu abergläubiges Geschwätz gehalten. Die Erkenntnis, dass sie sich geirrt hatte, würde ihr noch für viele Nächte Alpträume bescheren.
Der Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte, stand an der Wand gegenüber der Treppe und goss Wein aus einem Krug in einen schlichten Kelch. Jetzt erkannte Madelin ihn bereits an der Statur - der Stiernacken suchte in Wien selbst unter den Soldaten seinesgleichen. Der Henker drehte sich um und führte den Kelch an den Mund. Er beobachtete die Wahrsagerin mit kleinen schnellen Augen über den Rand des Gefäßes hinweg, während er trank. Als er es absetzte, war seine Oberlippe dunkel gefärbt. Madelin hatte für einen kurzen Moment die Befürchtung,
dass sich Blut in dem Kelch aus Steingut befinden könnte. Als der Mann sich mit dem Ärmel über die Lippen fuhr, ließ sich die Flüssigkeit leicht abwischen. Blut wäre nicht so leicht zu entfernen wie roter Wein, so hoffte sie zumindest.
»Man hat mir gesagt,
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