Die Schicksalsleserin
dass du weißt, wo Daniel sei, der Lehrling des Kartenzeichners«, sagte sie schließlich. Sie wollte zur Sache kommen und nicht mit dem Mann unverbindliche Freundlichkeiten austauschen.
»Warum suchst’ ihn?«
»Ich muss ihn etwas fragen«, sagte Madelin. »Ich muss wissen, wer Woffenberger einen bestimmten Auftrag gegeben hat.«
»Warum?«, grunzte der Henker. Sein unsteter Blick machte sie ganz unruhig, er sah ihr nie direkt in die Augen.
»Weil der Mann, der ihm diesen Auftrag gegeben hat, vermutlich Woffenberger umgebracht hat. Und das bedeutet, dass Daniel, der Lehrling, vielleicht auch in Gefahr sein könnte. Er weiß zu viel.« Wenn die beiden miteinander bekannt waren, läge dem Henker vielleicht am Leben des Jungen, so dachte sie.
Die unruhigen Augen des Henkers fixierten sie bei diesen Worten. Eine schlecht verhohlene Wut stand ihm in die Züge geschrieben. Doch da war mehr. Sie blinzelte, als sie die Sorge erkannte, die der Mann offenbar tatsächlich für den Lehrling hegte.
»Er ist dein Sohn«, schloss die Wahrsagerin erstaunt. »Daniel ist dein Sohn, nicht wahr?«
Er antwortete nicht, doch sein Stirnrunzeln bestätigte ihren Verdacht. »Wie hast du es geschafft, dass Woffenberger ihn als seinen Lehrling annimmt?«, fragte sie. »Kein ehrbarer Mann würde den Sohn eines Henkers einstellen!«
»Er hatte Schulden bei mir«, sagte der Mann und wandte den Blick wieder von ihr ab. »Ein Vetter Woffenberges sollte
bei der Spinnerin aufgeknüpft werden«, sagte er. »Hab ihn laufen lassen.« Die Spinnerin am Kreuz war eine Hinrichtungsstelle, etwa drei, vier Stunden südlich von Wien. Die Säule dort sollte eine treue Spinnerin aufgestellt haben, die auf ihren Mann wartete, der vor Jahrhunderten auf den Kreuzzug gegen die Osmanen gezogen war. Madelin fragte sich kurz, ob sich die Männer und Frauen Jerusalems wohl ebenso gefühlt haben mochten wie jetzt die Bürger Wiens, als man den Krieg vor ihre Tür getragen hatte - angsterfüllt, von der Welt abgeschnitten, allein.
»Und wo ist dein Sohn jetzt?«, fragte Madelin mit neuem Mut. Gleichzeitig kehrten die Sorgen um Anna zurück. Wenn die Verbindung zwischen Daniel und dem Henker stimmte, besaß der Henkersmann dann tatsächlich Nachricht von der Schwester?
»In Sicherheit, dort, wo ihn niemand finden wird«, gab der stiernackige Mann zurück. Er fuhr sich über die dunklen Haarstoppeln auf dem Kopf. »Auch du nicht.«
»Aber es ist wichtig!«
»Warum sollt’s wichtiger sein als das Leben meines Sohnes?«, grollte der Henker.
Madelin ignorierte ihr furchtsam klopfendes Herz. »Weil es unser aller Leben kosten könnte, wenn man nicht herausbekommt, wer den Auftrag gegeben hat. Wenn die Osmanen in die Stadt gelangen, wirst auch du sterben!«
Der Mann lächelte böse. »Er hat gesagt, dass du das sagen würdest.«
»Wer … wer hat das gesagt?« Ein kalter Hauch fuhr ihr den Rücken hinunter.
»Ich«, sagte eine heisere Stimme ganz nah bei ihrem Ohr. Sie spürte Leder und kaltes Metall am Hals, dann roch sie den süßlichen Gestank. »Weg mit dem Holz.«
Madelin wagte nicht, sich umzusehen, doch das musste sie auch nicht - sie wusste, dass der Mann mit dem schlohweißen Haar hinter ihr stand. Seine heisere Stimme hätte sie überall wiedererkannt; sie klang so krank, wie sein Gesicht aussah. Sie ließ das Stuhlbein fallen. Hatte Wolfram sie in eine Falle gelockt? Hatte er kein Geld von ihr haben wollen, weil er schon welches erhalten hatte - für den Auftrag, sie mit der Information über ihre Schwester herzulocken? Doch woher wusste der Löwengesichtige von Anna?
»Gestern habe ich versucht, den ursprünglichen Plan von Wien zum zweiten Mal aus der Bibliothek zu stehlen, nachdem ich ihn dort wieder hingebracht hatte. Leider haben die verdammten Landsknechte ein paar Tage erfolgreich verhindert, dass dort jemand herumschleicht«, sagte der Mann. »Und was musste ich feststellen? Deine diebischen Finger waren schneller als meine.«
Der Plan war weg? Gab es denn noch jemanden, der daran ein Interesse besaß? »Ich … ich habe den Plan nicht genommen«, flüsterte Madelin voll Angst. »Was hast du damit vor? Zahlen dir die Osmanen Geld dafür?«
»Schweig!«, hauchte er hinter ihr. »Du und dein hoffärtiger Student habt euch genug eingemischt. Gib mir die Spielkarten!«
»Ich hab sie nicht bei mir«, sagte Madelin atemlos. »Wirklich - ich habe sie versteckt!«
»Soll ich sie durchsuchen?« Der Henkersmann kam grinsend näher und streckte
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