Die Schicksalsleserin
hinterher bereut habt, das sich aber nicht wiedergutmachen ließ?«
Wie schon bei ihrer ersten Auseinandersetzung griff sich Hofer Lucas’ Wams, drehte den Stoff und rammte den Studenten gegen eine Häuserwand. »Du verdammter …«
»Ich verdammter was?«, fragte Lucas.
»Du verdammter Hundesohn! Du würdest in derselben Situation genau dasselbe wieder tun, gib’s zu!«
Lucas zögerte. Das Bild von Ansässers erschlaffenden Gesichtszügen stand ihm vor Augen und würde ihn vermutlich noch ein Lebtag lang begleiten. »Möglich«, erwiderte er. »Aber hier geht es doch gar nicht um Ansässer, oder?«
»Sicher geht’s um Ansässer, Bürschlein, und darum, dass’d ein verantwortungsloser Stenz bist, darum geht’s!«
»Warum habt Ihr Euch mit mir auf diese Wache einteilen lassen, Hofer?«, fragte Lucas. »Ihr hättet das nicht tun müssen. Ihr hättet ablehnen können.«
Der Zimmermann verstärkte seinen Griff an Lucas’ Gewand. »Jemand muss aufpassen, dass’d nicht noch jemanden umbringst, deshalb!«
»Aber warum ausgerechnet Ihr? Das hat doch nicht erst mit Ansässers Tod angefangen. Ihr habt’s auf mich abgesehen, solange ich denken kann!«
»Du verdammter …«, fuhr Hofer wieder auf. »Hätte ich damals nur …«
Lucas hätte gerne gewusst, was Hofer zu sagen hatte. Doch ein Geräusch von der Mauer lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. »Psst!«, machte er und lauschte angestrengt.
Was er gehört hatte, war ein dumpfes Klopfen gewesen, gefolgt von einem Stöhnen. Es hatte geklungen, als ob jemand
mit einem Knüppel angegriffen worden wäre. Lucas hob mit einem warnenden Blick den Zeigefinger an den Mund, um Hofer zur Stille anzuhalten, und starrte in die Schatten des frühen Morgenlichtes. Trotzdem konnte er nichts erkennen.
»Ich hör nichts, verdammt!«, zischte der Zimmermann.
»Ich aber«, flüsterte der Student. »Leise!«
Auch hier im Norden waren die Gebäude, die zu nahe an der Stadtmauer gelegen hatten, in den letzten Tagen abgerissen worden. Doch so sorgfältig wie im Süden hatte man hier oben nicht gearbeitet. Einige Dutzend Schritte voran hinter dem Spenglerturm standen noch die Reste eines gemauerten Kamins, andernorts waren Häuserecken aus Stein stehen geblieben.
Lucas lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Kamin. Hier ragten die Äste eines großen Baumes von der anderen Seite an die Mauer heran. Warum hatte man den nicht gefällt?
Ein neuerliches Stöhnen erklang, kurz und unterdrückt. War dort jemand über die Mauer gesprungen? Lucas zog langsam sein Schwert und deutete voran. Hofer nickte. Offenbar hatte er das Geräusch jetzt auch gehört. Sie schoben sich leise voran.
Der Sand des Weges knirschte unter ihren Stiefeln und kam Lucas lauter vor als sonst; jeder Atemzug schien sie in der Kälte durch die Wolke in der frühmorgendlichen Luft verraten zu wollen. Dann hatte Lucas eine Idee.
Er steckte sein Schwert weg und gestikulierte dem Zimmermann mit zwei Fingern, dass er selbst ganz normal an dem Mauerrest vorbeigehen würde, um für Ablenkung zu sorgen, damit Hofer dann von hinten zugreifen konnte. Der Alte fuhr sich durch den grau gesträhnten Bart und verengte kurz die Augen zu Schlitzen. Dann nickte er. Offenbar hatte er verstanden.
Sich normal aufzurichten und den Schritt wieder mit der üblichen Lautstärke und Sorglosigkeit auf den sandigen Boden aufzusetzen, erforderte eine gewaltige Überwindungskraft. Lucas konnte nur hoffen, dass der Plan aufging und Hofer nicht noch zu sehr unter seiner Wunde zu leiden hatte, um mit dem, was dort in der Ecke lauerte, fertigzuwerden. Der Student zwang sich sogar dazu, ein atemloses Liedchen zu pfeifen. Er senkte das Kinn auf die Brust und hob die Hände zum Umhang, als hantiere er an dem Verschluss. Dann ging er voran, vorbei an dem Kaminrest unter dem Baum an der Stadtmauer.
Wer dort auch immer lauern mochte - er konnte ihn jederzeit mit einer Waffe anspringen. Jeder Schritt schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, dann war Lucas vorbei an dem Kaminvorsprung und hörte Geräusche hinter sich - ein Stöhnen, Schaben, vielleicht von Stiefeln auf Sandboden oder Stein. Er fuhr herum.
In dem Winkel hinter dem Kaminschlot kämpfte Wilhelm Hofer mit einem Mann. Gerade wurde der Zimmermann mit viel Schwung und dem Gesicht voran gegen die Stadtmauer gedreht. Er riss noch im letzten Augenblick den Arm hoch und fing sich ab, doch der Fremde wandte sich schon zur Flucht. Lucas war noch nicht nah genug, um sich auf ihn zu werfen. Er
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