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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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änderte die Richtung und machte sich auf eine lange Verfolgungsjagd gefasst. Der Fremde sprang vorwärts, um den Hang zur Sterngasse hinaufzufliehen. Dann stürzte er mit einem Ruck, denn Hofer hatte ihm im letzten Augenblick ein Bein gestellt.
    Der Zimmermann warf sich trotz seiner verheilenden Wunde auf den Fremden und hieb ihm die Fäuste ins Gesicht. Als Lucas die beiden Ringenden erreichte, sah er, dass man das Geschehen keinen Kampf mehr nennen konnte. Wilhelm Hofer schlug auf den am Boden Liegenden ein, der sich nur noch
schwach wehrte und versuchte, sein Gesicht zu schützen. Stattdessen landeten die Schläge nun auf dem Brustkorb des Mannes.
    Lucas fiel Hofer in den Arm. »Lasst ab, Mann!«, rief er. »Er spuckt ja schon Blut!«
    »Er ist ein Spion!«, knurrte Hofer mit zusammengebissenen Zähnen. »Der will ausspitzeln, wie viele Soldaten wir haben und wie viele Kanonen, und uns dann für Gold an die Osmanen verkaufen!«
    »Bienen«, stieß der Fremde aus und rang nach Luft - einer der letzten Schläge hatte ihm gründlich den Atem geraubt.
    »Bienen? Im Oktober?« Hofer lachte grimmig. »Dass ich nicht lache.«
    »Lasst doch erst einmal von ihm ab, Hofer!«, bat Lucas. »Der läuft so schnell nirgendwohin.« Mit Grauen dachte er an die Berichte von dem Herrn im Goldkaftan, der kürzlich nicht unweit von hier mit einigen anderen türkischen Soldaten in der Donau ersäuft worden war. Die Menschen in Wien waren wütend und hatten Angst, eine Mischung so explosiv wie Schwefel und Salpeter.
    »Bitte.« Der Student bot Hofer die Hand, um ihm von dem am Boden liegenden Mann herunterzuhelfen. Der Zimmermann musterte ihn skeptisch. Dann stand er aus eigener Kraft auf, ohne Lucas’ Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dabei presste er den Arm auf seine verwundete Seite.
    Der Mann, der anscheinend gerade über die Mauer geklettert war, sah nicht nach einem typischen Osmanen aus. Er hatte hellbraunes Haar und grüne Augen, trug allerdings nach Art der Janitscharen einen langen Schnurrbart. Kinn und Wangen waren blankrasiert. Seine Kleidung erinnerte ebenfalls an die Gewandung der Osmanen. Sie bestand aus hellen Beinkleidern aus warmem Stoff und einer blauen Tunika, die an den Knien
endete und vorne geknöpft war. Das Haupt war unbedeckt und ein Umhang fehlte - ebenso Waffen oder Abzeichen.
    »Wenn er ein Spion wäre - würd er sich dann nicht eher in Bauernkleider hüllen, um nicht aufzufallen, statt im Kaftan in die Stadt zu klettern?«, fragte Lucas nachdenklich.
    »Immer denkst du so kompliziert, Bürschlein«, grollte der Zimmermann. »Er ist ein Osmane, da bin ich sicher. Und Osmanen, die nach Wien hereinkommen, bringen wir um. Ich zumindest bin genau deshalb in der Stadt geblieben.« Er griff zu seinem Schwert.
    Der Mann auf dem Boden verfiel in hektisches Gefuchtel. Eine Hand wanderte zur Brust und fuhr dort über den Stoff seiner Tunika - erst von der einen Seite der Brust zur anderen, dann hoch zur Kehle, hinab zum Magen. Und von vorne. Dazu sagte er mit aufgeplatzter Lippe wieder und wieder: »Bienen! Bienen!«
    »Er versteht unsere Sprache«, erkannte Lucas. »Er hat Angst, dass Ihr ihn umbringt.« Endlich erkannte er auch das Zeichen, das der Mann auf der Brust malte. »Und er schlägt das Kreuz Christi auf seiner Brust. Der Mann ist kein Osmane, Hofer, er ist ein Christ!«
    Hofer fluchte. »Das soll ein Kreuzzeichen sein?«
    Lucas hockte sich neben dem Mann nieder und tupfte ihm mit dem Ärmel das Blut vom Mund. Die geplatzte Lippe war angeschwollen, möglicherweise fehlten Zähne. Auch die Nase war gebrochen und dicker geworden. »Ich hoffe inständig, dass Ihr dem Mann nicht die Eingeweide zerschlagen habt«, murmelte er. Der Mann brauchte einen Feldscher, der ihn behandelte. Dann wandte er sich an den Verletzten. »Was ist mit Bienen?«, fragte er.
    Der Fremde sah ihn hoffnungsvoll an und formte mit den Lippen sorgfältig den ersten Buchstaben des Wortes und wiederholte:
»Bienen. Dürgen graben Bienen.« Es folgte ein Schwall einer Sprache, die Lucas nicht verstand, möglicherweise Ungarisch.
    »Was redet der?«, fragte Hofer. »Ist er besessen?«
    Lucas formte die Worte selbst mit dem Mund nach. »Ich weiß es nicht - ich glaube nicht. Aber er ist kein Feind. Vielleicht hat er in der Armee des Feindes gedient. Aber jetzt versucht er, uns vor etwas zu warnen.« Der Student blickte zu dem Zimmermann auf. »Dieser Mann muss zu Graf Salm, wenn er etwas zu sagen hat.«
    »Du schenkst ihm

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