Die Schicksalsleserin
auf den Kopf. Sie schaukelte die Tochter ein wenig, um sie zu beruhigen. Dann steckte sie die kalte Nase ins Haar der Tochter und genoss für einen Augenblick die Wärme und den Duft. Hier wenigstens roch es noch wie zu Hause. Anna schloss die Augen und stellte sich vor, sie läge mit dem Töchterlein im Bett, und Friedrich würde mit seinem zappeligen Po und seinem kleinen, heißen Kinderkörper neben ihr schlafen. Sie tastete nach dem Sohn, der sich hinter sie geschmiegt hatte. Der Platz, wo er gelegen hatte, war leer. Dabei hatte er sie doch seit ihrer schrecklichen Erfahrung bei der Gefangennahme nicht mehr aus den Augen gelassen!
Anna fuhr hoch. Fritzl! Wo war ihr Fritzl? Sie hatten einander Wärme spenden wollen, denn der kleine Bursche war ein echter Heizofen. Die Mutter erhob sich und sah sich um. Um sie herum lagen schlafende Frauen und Kinder. Jungen und Männer gab es nicht so viele, und alte Menschen gar nicht, die hatten die Osmanen getötet. Die Mutter rückte das Kind im Tragetuch zurecht und ging zwischen den Liegenden hindurch.
Die meisten regten sich nicht; es war spät in der Nacht. Doch hier und da wurde ein Kopf gehoben oder schläfrig mit den Augen geblinzelt, als sie die Stufen des Chors hinunter ins Mittelschiff ging. Sie versuchte, ihre Furcht zu bezwingen, um den Jungen unter den Körpern ringsum ausmachen zu können. Vielleicht hatte er sich mit anderen Kindern zu einem stillen Spiel zusammengefunden, oder zu einem Erkundungsgang den Turm hinauf. Doch warum sollte er? Der kleine Junge war in den letzten Tagen von den Geschehnissen so erschüttert gewesen, dass er kaum noch ihren Rocksaum losgelassen hatte.
Als die Mutter die offen stehende kleine Seitentür des Nordschiffes sah, ahnte sie Schlimmes. An den ersten ein, zwei Gefangenen, die versucht hatten, aus dem Kirchraum zu fliehen, waren Exempel statuiert worden. Man hatte sie mit einem Flaschenzug unter das Portal der Kirche gehievt und dort mit dem Bauch auf einen gekrümmten Eisenspieß gesteckt, den man dort angebracht hatte. Seit diesen Hinrichtungen hatte es keine Fluchtversuche mehr gegeben. Wenn nun aber Fritzl hinausgelaufen war …
Atemlos schritt Anna auf die Tür zu und wunderte sich im selben Moment, dass vor dem Seitenausgang keine Wache stand. Sie trat hinaus und wiegte Elisabeth sachte in ihren Armen. Wenn das Kind schrie, würden sie entdeckt werden. Und wenn man sie draußen erwischte, würde man sie vermutlich ebenfalls als Ausbrecherin aufspießen. Die Furcht um ihren Sohn bezwang die Angst. Einen Arm um die Tochter gelegt, zog sie die Tür weiter auf und hoffte, dass sie nicht quietschen würde.
Draußen erkannte sie in der Dunkelheit die Schemen einer kleinen Ansammlung von Häusern und ein paar wenigen Scheunen. Das Gras dazwischen war von vielen Pferdehufen
zerfurcht. Zelte verschiedenster Farben und Formen waren aufgestellt worden, in deren Nähe standen Pferde in kleinen Grüppchen. Als sie lautes Lachen hörte, hielt sie inne - sie erblickte in der Nähe der Kirche ein Lagerfeuer. Als sie ein Kinderweinen hörte, musste sie sich zügeln, nicht auf das Feuer zuzulaufen.
In dessen Schein erkannte Anna, dass eine Gruppe von Soldaten im Schutz dreier Zelte ein paar Burschen im Schwertkampf unterwies. Zwei Buben, sicherlich um die zehn Jahre alt, trugen jeder einen gebogenen Säbel in der Hand und ließen sich zeigen, wie man einen Hieb von oben nach unten führte. Was ihnen an Technik mangelte, machten sie mit grober Wucht wett.
Anna hielt inne, als sie ihren Sohn sah. Fritzl lebte. Er wurde von einem der Soldaten nach vorne geschoben. Sie wusste nicht so recht, ob sie sich zu erkennen geben sollte. Vielleicht wollten die Osmanen bloß feststellen, ob die Kinder Talent an der Waffe besaßen. Fritzl schien entsetzliche Angst zu haben.
Anna wollte eingreifen, da erkannte sie zwei der Männer - sie waren bei dem Angriff auf den Flüchtlingszug dabei gewesen und hatten geholfen, sie zu fangen. Ihr Atem wurde flach, wenn sie sich an die Hände der Männer auf ihrer Haut erinnerte, an die Fäuste in ihrem Gesicht sowie an die harten Stöße, mit denen sie rücksichtslos in sie eingedrungen waren. Annas Gefangennahme war fast eine Woche her, doch die Prellungen und Quetschungen auf ihrer Haut waren immer noch schwarz und violett gefärbt.
Insgesamt hatten sich hier fünf Buben versammelt, die Anna kannte, weil sie in den letzten Tagen ab und an mit ihrem Sohn gespielt hatten. Fritzl gegenüber stand ein anderer
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