Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
ein kurzer Schritt.
– Ich halte es sogar für den schönsten Anfang einer glücklichen Liebe, bemerkte Frau Rhodes.
– Wie dem auch sei, Sie können mir Glauben schenken, wenn ich heute behaupte, daß seit dem Tage Halg ganz unter dem Einflusse dieser ihm neuen Empfindung steht. Sie ahnen gar nicht, welche Veränderung mit dem jungen Manne vor sich gegangen ist. Ich werde es Ihnen an einem Beispiel zeigen… Wie Sie sich denken können, sind die Eingebornen des Magalhães-Archipels nicht gerade zur Eitelkeit geneigt. Trotz des strengen Klimas geht ihre Gleichgültigkeit in diesem Punkte so weit, daß sie stets unbekleidet einhergehen. Halg war schon ein wenig beeinflußt durch die Ideen über Zivilisation, die ich – mit Unrecht vielleicht – mit hergebracht habe, er konnte unter seinen Stammesgenossen schon als Stutzer gelten, nachdem er sich seit dem Schiffbruche des »Jonathan« herbeigelassen hat, sich mit Seehunds-oder Guanakofellen zu bekleiden. Aber jetzt hat seine Putzsucht einen noch höheren Grad erreicht. Er hat unter den Emigranten einen Haarkünstler ausfindig gemacht und seine langen Haare schneiden lassen. Wahrscheinlich ist er der erste Feuerländer, welcher der Mode solche Zugeständnisse macht. Aber das ist noch nicht alles! Er hat sich – auf welche Weise, ist mir unbekannt – einen vollständigen Anzug verschafft und verläßt seine Hütte nur in europäischer Kleidung; zum ersten Male in seinem Leben trägt er Schuhe, die ihm gewiß sehr unbequem sind. Karroly weiß nicht, was er davon halten soll. Ich weiß nur zu gut, was es zu bedeuten hat.
– Und Graziella, erkundigte sich Frau Rhodes, bemerkt sie diese Bemühungen, die darauf hinzielen, ihr zu gefallen?
– Ich habe sie natürlich nicht darum gefragt, versetzte der Kawdjer. Aber wenn ich Halgs glückstrahlendes Gesicht sehe, denke ich, daß seine Angelegenheit unmöglich schlecht stehen kann.
– Das wundert mich nicht, sagte Harry Rhodes, Ihr junger Gefährte ist ein hübscher Mann.
– Er ist körperlich ganz gut geraten, das gebe ich zu, bestätigte der Kawd-djer mit augenscheinlicher Genugtuung, aber moralisch ist er noch mehr wert. Er nennt ein gutes, edles Herz sein eigen, ist treu, aufopfernd, ergeben und klug, was auch nicht zu unterschätzen ist.
– Er ist wohl Ihr Schüler? fragte Frau Rhodes.
– Sie können sagen: mein Sohn! berichtigte sie der Kawdjer, denn ich liebe ihn wie ein Vater. Deshalb bekümmert es mich, daß er diesen Ideen nachhängt, die ihm schließlich nur herbe Enttäuschungen bringen werden.«
Die Vermutungen des Kawdjer waren ganz richtig. Eine lebhafte, gegenseitige Sympathie näherte täglich die Herzen des jungen Indianers und Graziellas. Von dem Augenblicke an, da er sie zum ersten Male gesehen, hatte er nur mehr für sie Gedanken und Blicke gehabt und kein Tag war seither verstrichen, an dem er sie nicht gesehen hatte. Nachdem er Zeuge der Szene gewesen, welche die Einmischung des Kawdjer bedingt hatte, kannte er den wunden Punkt ihres Lebens und mit der den Liebenden eigenen Geschicklichkeit wußte er ohne alle Gewissensbisse daraus Nutzen zu ziehen.
Unter dem Vorwande, über die Sicherheit der beiden Frauen wachen zu müssen, nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu fragen, verweilte er lange Stunden in ihrem Zelte; alle waren der englischen Sprache vollkommen mächtig, wodurch ein Gedankenaustausch ermöglicht wurde.
Haig war auch in diesem wie in so manchem anderen Falle seinen Landsleuten, die sich gegen die Erlernung fremder Sprachen sehr ablehnend verhalten, ganz unähnlich.
Er hatte im Gegenteile mit großer Leichtigkeit englisch und französisch sprechen gelernt und jetzt war er im Begriffe, unter der Leitung Graziellas staunenswerte Fortschritte im Studium der italienischen Sprache zu machen, deren Erlernung ihm wieder einen ausgezeichneten Vorwand bot, die Familie Ceroni regelmäßig zu besuchen.
Für Graziella blieb natürlich die wahre Ursache des großen Eifers nicht lange ein Geheimnis. Zuerst hatte sie die Wirkung ihres persönlichen Einflusses auf Halg mehr belustigt als erfreut. Halg mit seinen langen, straffen Haaren, den schmalen Schläfen, der leicht eingedrückten Nase, der gebräunten Gesichtsfarbe machte ihr den Eindruck eines einer ganz anderen Menschenklasse angehörigen Wesens. Ihrer phantastischen Einteilung nach teilten sich die Bewohner unseres Planeten in zwei Klassen, zwei gänzlich getrennte Rassen: in Menschen und – Wilde.
Haig, welcher ein
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