Die schlafende Armee
ihr sagen müssen, was hier wirklich vorging. Schließlich hatte sie gewußt, daß die USA kein Patent auf die Technik des künstlichen Winterschlafs gehabt hatten. Und trotzdem sah sie Hartmann und die beiden anderen plötzlich mit ganz anderen Augen. Mit einem Mal verstand sie die Feindseligkeit und Verbitterung der drei Männer. Sie hieß sie nicht gut, aber sie begriff, was in ihnen vorging. Es waren die gleichen Gefühle, die auch sie kurz nach ihrem Erwachen gehabt hatte. Diese drei Männer kannten diesen Planeten, wie er vorher gewesen war. Sie kannten diese Stadt, bevor sie zerstört und in eine Hölle verwandelt worden war, sie kannten vielleicht jede einzelne Straße, jedes einzelne Gebäude dort draußen, und für sie mußte dieser Anblick ungleich erschreckender sein als für die anderen. Aber das Gefühl von Verständnis, mit dem Charity dieser Gedanke erfüllte, währte nur Augenblicke; dann machte es Zorn Platz. »Ihr seid nicht allein, nicht wahr?« sagte sie. »Ich meine, irgendwo dort draußen gibt es wahrscheinlich eine ganze Bunkerfestung. Und ihr sitzt seit fünfzig Jahren dort, ausgerüstet mit allem, was ihr braucht, und bewaffnet bis an die Zähne und habt nichts anderes getan, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie sie diesen Planeten Stück für Stück verändern.« »Das ist nicht ganz richtig«, antwortete Hartmann ruhig. »Oh, natürlich nicht!« sagte Charity spöttisch. »Wahrscheinlich habt ihr euch die Zeit damit vertrieben, gelegentlich Jagd auf diese armen Kerle da draußen zu machen.« »Irrtum, Schätzchen«, sagte Lehmann böse. »Es ist umgekehrt: Die armen Kerle dort draußen machen Jagd auf uns.« Charity funkelte den Soldaten wütend an, verbiß sich aber die scharfe Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie spürte, daß sie die Kontrolle über sich verlieren würde, wenn sie auch nur ein weiteres Wort sagte. Außerdem wußte sie einfach zu wenig über die Situation hier, um sich wirklich ein Urteil erlauben zu können. Ohne Hartmann und seine beiden Begleiter noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie sich mit einem Ruck von der Tür ab und ging zu Helen und Net hinüber, die sich um den verwundeten Techniker kümmerten. Kyle hatte den Mann auf eines der Lumpenbündel gebettet, die überall auf dem Boden herumlagen. Er war ohne Bewußtsein, bewegte sich aber unruhig und redete im Fieber. Charity verstand nicht, was er sagte, denn anders als Hartmann und die beiden Soldaten sprach er nicht Englisch, sondern Deutsch, von dem sie nur einige Brocken verstand. Besorgt musterte sie das bleiche, schweißglänzende Gesicht des Mannes einen Moment und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Net. Die Wasteländerin sah sie einen Moment lang ernst an und schüttelte dann fast unmerklich den Kopf. Charity spürte erneut eine Woge heißen, hilflosen Zorns in sich aufsteigen. Es war ungerecht, daß dieser Mann, der ihnen vermutlich allen das Leben gerettet hatte, indem er zurückblieb, um den Tunnel zu sprengen, jetzt mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen sollte. Mehr aus bloßer Verzweiflung denn aus der wirklichen Hoffnung heraus, daß er wirklich etwas tun könne, drehte sie sich herum und winkte Gurk heran. Im ersten Moment ignorierte der Zwerg ihre Geste. Seit sie auf die Barbaren gestoßen waren, hatte er kein einziges Wort mehr gesagt, aber sein Verhalten hatte sich geändert. Gurk gefiel sich normalerweise darin, den Giftzwerg zu spielen, aber niemand nahm seine aufgesetzte Feindseligkeit wirklich ernst. Doch der Zorn, den sie jetzt in Abn El Gurks pupillenlosen, dunklen Augen las, war echt. Sie hatte fast das Gefühl, daß er ihr und den anderen die Schuld an ihrer mißlichen Lage gab. »Was willst du?« fragte Gurk, nachdem er sich endlich bequemt hatte, näher zu kommen. Charity stand auf und deutete gleichzeitig mit einer Geste auf den Bewußtlosen. »Kannst du irgend etwas für ihn tun?« »Ja«, knurrte Gurk, »ihm die Kehle urchschneiden. Dann leidet er wenigstens nicht länger.« »Ich meine es ernst«, antwortete Charity ruhig. »Hilf ihm.« »Und wie?« Gurk verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ließ sich aber trotzdem neben dem verletzten Techniker auf die Knie sinken und tastete mit seinen dürren, greisen Fingern über sein Gesicht und seine Schläfen. »Was erwartest du von mir? Ich bin weder Medizinmann noch Zauberer. Der Mann stirbt.« »Vielleicht ist es das beste für ihn.« Obwohl Charity wußte, wie
Weitere Kostenlose Bücher