Die schlafende Stadt
spöttische Stimme.
„Da ist ihm doch irgendetwas gar nicht gut bekommen!“ johlte es von hinten.
„Jetzt haben wir endlich Ruhe und Respekt in Bataillon 26! Genau wie befohlen!“ ulkte jemand anders .
Berthold erwachte schreiend. Er hörte noch das Lachen von Stimmen, von denen er nicht unterscheiden konnte, ob sie seinem Traum entstammten oder ob sie real waren. Er brauchte mehrere Minuten, um sich zu beruhigen. Er fühlte seine pochenden Wunden, die zweifellos die Erklärung für den widerwärtigen Traum waren. Er fühlte seine Stirn. Sie war von kaltem Schweiß bedeckt und fühlte sich dennoch fiebrig an. Sein Zittern war also womöglich nicht nur Angst. Er schleppte sich ins Bad und machte sich eine Wärmflasche, wechselte den nassgeschwitzten Schlafanzug. Zum Lesen war er zu erschöpft. Doch im Bett konnte er es kaum aushalten. Die Enge seiner Wohnung bedrohte ihn. Es war ihm, als lauere ein Dämon im Schatten, um ihn erneut heimzusuchen, sobald er die Kontrolle seines Verstandes abgegeben hatte. Kurz entschlossen kleidete er sich an. Er sah auf die Uhr: Zwei Uhr nachts. Ein Spaziergang draußen, das war beruhigende Realität.
Die Nacht war bereits sommerlich warm, Berthold brauchte nur seine leichte Jacke. Als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er die vielen Sterne. Lange wagte er es aber nicht, in den Himmel zu sehen, denn schon meldeten sich seine Angstphantasien von den unendlichen Weiten des Alls. Am liebsten wäre er wieder zu Timothy gegangen, aber die späte Uhrzeit und ein leises Aufflackern von Ehrgeiz hielten ihn diesmal davon ab. Schöne, große, schutzgebende Bäume, das wäre jetzt gut für ihn, oder alte ehrwürdige Gebäude, die die Vergänglichkeit überdauert hatten. Berthold schlug den Weg in die Altstadt ein. Tief atmete er die Nachtluft. Erst wankte er noch, dann schritt er zügig voran, er wollte seinen Körper spüren. Je mehr Kraft er an sich wahrnahm, desto entspannter würde er werden. Er legte einen leichten Laufschritt ein, verlangsamte seine Schritte aber bald wieder. Schließlich wollte er ja ruhiger werden. Bald hatte er das gotische Stadttor erreicht. Andächtig berührte er die dicke Mauer, und er stellte sich vor, die Wuchtigkeit und steinerne Ruhe gingen auf ihn über. Er atmete tief ein.
Es wirkte tatsächlich, und sogleich wurde die Welt wieder interessant und atmosphärisch. Berthold streichelte voller Dankbarkeit die großen Steinquader wie ein paar gute alte Freunde. Jetzt, jetzt war er wieder er selbst. Anstatt wieder in sein Bett zurückkehren zu wollen war er auf einmal unternehmungslustig. Er beschloss, noch einige Gassen der mittelalterlichen Altstadt zu durchqueren, und vielleicht den Weg zurück am Flussufer entlangzugehen, entlang der alten Hexenstiege, und über die St. Hieronymus-Brücke wieder den Heimweg anzutreten.
Die Ideen flossen auf einmal, als habe er einen Staudamm in seinem Kopf geöffnet. Die verwinkelten Straßen hatten eine ausgesprochen produktive Wirkung. ‚Ich sollte vielleicht immer Nachts arbeiten’ überlegte Berthold, und sinnierte mehrere hundert Meter darüber nach, ob er Zacharias Heydorn, den dämonischen Nebencharakter seiner Erzählung, am Ende doch noch sterben lassen sollte. Aber natürlich musste er darauf Acht geben, dass nicht ein billiger Touch von Romantic-Thriller dabei herauskam. Die philosophische Botschaft war klar: Der Mensch in einer unberechenbaren Welt, nur spärlich (und meistens unzureichend) erhellt durch das zarte Flämmchen der Vernunft, aber dennoch letztendlich getragen von etwas Größerem. Das durfte natürlich nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommen. Aber es sollte auch nicht zu versteckt sein. Am besten stimmungsvoll herausarbeiten. Ob Elisabeth und Leonhard sich kriegen, könnte man ja offen lassen. Überhaupt hatte er vor einigen Tagen bereits die Idee gehabt, Elisabeths Unentschlossenheit durch eine verborgene Sehnsucht zu erklären, die unerfüllt geblieben war und die letztendlich alles verhindern könnte. Aber zu wem? Eventuell würde er noch eine weitere Figur hinzunehmen müssen. Die müsste aber dann mehrere Kapitel zuvor eingeführt werden. Aber wo?
Berthold war nun schon eine ganze Weile auf einem erhaltenen Stück der Stadtmauer entlang gelaufen. Der Steg führte direkt in den Dicken Turm, ein runder ungemein wuchtiger, gedrungener Wehrturm aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges. Berthold spähte durch eine der Schießscharten auf den rauschenden Fluss
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