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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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sich in dekadenten Verfall verwandelt hat, passt zu dieser imposanten Frau, und wenn sie jetzt eine Arie sänge, würde man sich nicht wundern.
    Die Moll ist in ein langes, dunkles Gewand gekleidet, das asymmetrisch und bauschig über ihre Knie fällt. Um die Schultern hat sie ein Wolltuch drapiert und um den Hals trägt sie eine Kette aus dicken grünen Kugeln, die der Üppigkeit ihrer Trägerin entsprechen. Ihr Lachen, wenn sie sich der Bedienung zuwendet, ist strahlend.
    Lauter alte Leute, denkt die Moll und ist froh über die gute Laune des Kellners, der seine theatralischen Künste ihr gegenüber noch mehr zur Schau stellt als bei den anderen Gästen.
    Unter ihren Augen haben sich tiefe dunkle Ringe gebildet, was aber bei ihr nicht krank, sondern wie eine Art übertriebener Schminke wirkt.
    Sie hat schlanke und zugleich energische Hände, mit denen sie mal an die Kette greift, mal über die Speisekarte streicht, mal auf etwas zeigt, das sie dem Kellner begreiflich machen will. Dann wieder schiebt sie das Haar hoch, als gälte es, ein ordentliches Lockengefüge herzurichten. Dabei könnte man eher von ›wilder Mähne‹ sprechen, wenn man sie so sieht. Margot kann den Blick gar nicht mehr von ihr wenden, da geht es ihr genauso wie Rottmann.
    In dessen Erinnerung hat sich sofort seine frühere Geliebte gedrängt, die stattliche Sonja, die ihn für mehrere Jahre aus seiner Ehe gelockt hatte. Er wird nie von Sonja loskommen. Es braucht ihn nur ein bestimmter weiblicher Duft anzuwehen, dann kann es passieren, dass er auf der Stelle dem verfällt, was man Sehnsucht nennt. Oder besser, Verlangen. Oder besser, wahnsinniges Verlangen. Oder besser, Begehren, abgründiges Begehren.
    So wabern in ihm die Gedankenwolken. Etwas braut sich zusammen, beinahe wird ihm übel davon. Der dunkle Geschmack, da haben wir’s wieder.
    Und Margot denkt: So jung? So stark? Und die soll nicht schlafen können?
    Wann hat es denn bei Ihnen angefangen?
    Was?
    Na, die Schlaflosigkeit –
    Ach Gott, wenn ich das wüsste.
    Rottmann ist ganz weit fort. Er denkt an die letzten Tage mit Sonja und an ihr trostbemühtes Lachen angesichts seiner beharrlichen Impotenz. Am demütigendsten dabei war die Wucht seines sich bis zur Schmerzgrenze steigernden sexuellen Drangs. Er hätte sich nie für einen Masochisten gehalten, in keinem Moment seines Liebeslebens hatte er bis dahin Freude an zugefügten Schmerzen, Erniedrigungen oder Verletzungen gehabt. Und jetzt, mit einem Mal, in der verzweifeltsten Machtlosigkeit seines Lebens, empfand er plötzlich Lust angesichts der mitleidig blinzelnden Sonja, die bei den Versuchen, ihn in einen sexfähigen Partner zurückzuverwandeln, alle Varianten der Vergeblichkeit auf sich nahm.
    Wissen Sie es wirklich gar nicht mehr?
    Vielleicht vor dreißig Jahren …
    Er rechnet, ob das stimmen könnte. Schon oft hat er darüber nachgedacht, aber auch bei noch so häufigem Grübeln in den langen Nächten zermürbender Lebensrekapitulation hat er den Anfang seiner Schlaflosigkeit nie wirklich herausfinden können.

Die Moll
    Nur Antiquitäten, außer dieser einen, dem kleinen Punk da drüben, na mal sehn … die alte Exaltierte dort mit der Kappe … ob das ihr Mann ist? Wenn gleich zwei nicht schlafen können – was für eine geballte Energie! Die könnten ein ganzes Mietshaus beheizen, allein mit dem Neuronenwerk ihrer wachen Nachthirne. Milliardenfaches Knistern und Knallen, Trillionen von Synapsen, eine Wahnsinnskraft. Die Frage ist doch nur: Warum gibt es kein Mittel, das uns endlich vom Schlaf erlöst, von dieser gottgewollten Zeitverschwendung? Wie hat der Therapeut doch neulich gesagt? Es geht nicht darum, dass Sie nicht schlafen können, sondern dass Sie nicht schlafen wollen! Und wie er das gesagt hat! Als hätte er ein verheimlichtes Verbrechen in meinem Leben aufgedeckt.
    Gleich kommt da wieder so ein Guru, der uns etwas einreden will. Von wegen Schlaf sei die Wiege des Lebens, die Quelle der Energie, das Dunkel, dem wir das Helle verdanken, und ähnliche Trivialitäten … dabei ist nichts gewaltiger als so ein Synapsenchor der nachts Wachen! Was für ein Megakonzert! Schon allein was der junge Kellner hier an Synapsenbewegung auslöst … eine ganze Synapsenoper.
    Ja, gern, bringen Sie mir noch ein Glas von diesem herrlichen Wein, wie heißt er noch mal? Ach ja, Alter

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