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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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mal wieder ähnlich. Was ist nur los mit dir? Der Mann da drüben sieht ein bisschen wie Lothar aus … mal wieder Gelegenheit für seine Hirnchen-Nummer. Na Hirnchen, was war gestern um zwölf? Und wer war letzten Freitag bei uns? Und welchen Film haben wir vorgestern Abend gesehn? Wer war der Mörder beim letzten Wallander?
    Hirnchen, Hirnchen! Wo soll das noch hirnführen!
    Aber dass im Büro alles klappt, dass da mein Hirn wie am Schnürchen funktioniert, das versteh mal der liebe Gott. Ob sich der Therapeut nicht einfach um die Wahrheit drückt, wenn er behauptet: Frau Moll, es gibt Phänomene, die kann nur der Tiefseetaucher erklären, wenn überhaupt. Vielleicht hat Olga ja recht mit ihrem Mansollnichtalleserklären … Sie ist nicht umsonst Dichterin. Auf jeden Fall schmeckt es hier prima. Mein Unbewusstes bestellt ein Schnitzel. Danke, Unbewusstes, du hast einen guten Geschmack. Der Typ mit dem Lotharschopf, oder besser mit der Lotharglatze, mit dem schmalen wohlgeformten Schädel, auf dem jedes weitere Haar nur zu viel wäre, was der wohl gerade denkt? Er ist ganz schwarz gekleidet, oder ist das dunkelblau, nein, eher schwarz. Das ist jetzt Mode, alle diese aktiven Männer mittleren Alters in Schwarz. Ob er auch einer von den SL-Aktivisten ist? Könnte ja auch ein ganz normaler Gast sein. Wie er den ›Spiegel‹ vor sich hält beim Essen. Er isst und liest, das kann ich gut verstehn. Kein Mensch sitzt gern allein am Tisch im Restaurant, selbst Männer nicht. Das Schnitzel zergeht einem auf der Zunge. Wie bei Großmutter. Sommer auf der Veranda neben der Küche im geflochtenen Balkonsessel, aus dem überall abgebrochene Weidenspitzen ragten, an denen man mit dem Pullover hängen blieb. Kindgottes, komm, iss! Schnitzel, so dünn wie dieses hier und ohne Knorpel. Bratkartoffeln und süßer Gurkensalat mit schlappen, durchsichtigen, in Sauce getränkten Gurkenscheiben. Schon damals wolltest du nicht schlafen.
    Gott will, dass wir schlafen … und die Großmutter sang: Guten Abend, gute Nacht … von Näglein besteckt …
    Ich stellte mir meinen Körper mit dünnen Nägeln gespickt vor wie das Nadelkissen in Großmutters Nähkasten. Ich lag in ihrem nach Nelken riechenden Bett und hatte den Körper eines Igels, lauter Näglein auf meiner Haut. Ich strich darüber und strich über ein metallenes Fell. Ich weiß, wie es sich anfühlt, bis heute weiß ich das.
    Wer nicht schläft, versündigt sich …
    Warum?
    Das ist so.
    Aber wenn man nicht will …
    Man muss vieles, was man nicht will … dafür gibt es Gesetze.
    Und was willst du nicht, Oma?
    Ach … ich hab mich an die Gesetze gewöhnt. Deswegen sag ich ja …
    Und wenn ich nicht mehr aufwach?
    Du wachst auf, immer.
    Opa ist auch nicht mehr aufgewacht.
    Opa war alt und krank.
    Ich will aber nicht entschlafen.
    Schlafen ist etwas anderes als entschlafen.
    Warum ist das etwas anderes?
    Schlaf braucht man, gesunden Schlaf, sonst wird man krank.
    So wie Opa?
    Ach was, nimm das!
    Und Großmutter schiebt mir ein Läppchen mit Zucker und Klosterfrau Melissengeist auf die Zunge.
    Die Moll lässt ihren Blick auf dem Mann ruhen, der ihrem Lothar gleicht. Er liest und hat den halbvollen Teller beiseitegeschoben. Mit der Linken hält er sein Magazin, in dem etwas seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln scheint. Seine Rechte spielt mit einem Stift, mit dem er hie und da etwas anstreicht oder nervös auf den Tisch trommelt.
    Moll, du musst aufpassen heute. Schon jetzt musst du aufpassen, du bist jetzt schon an der Weichheitsgrenze. Noch weicher ist nicht gut …
    Der Lothartyp ist nur von der Seite zu sehen, im Profil. Seine Art, den Kopf nach vorn zu beugen und aus dem leichten Trommeln ein Stechen werden zu lassen, hat etwas Trauriges. Er sticht mit der Stiftspitze auf den Tisch, es scheint ihm egal zu sein, dass da jetzt lauter schwarze Punkte auf der weißen Decke sind. Er ist von der Seite zu sehen und sein Nacken ist ungeschützt den Blicken von hinten ausgeliefert. Die Moll würde am liebsten einem plötzlichen Impuls von Mitleid folgen und zu ihm gehen und den Mund in seinen Nacken legen, dahin, wo sein schütteres Haar einen ungeschickten Rand über dem Hals bildet.
    Ach, armer Schlafloser, du. Jetzt weiß ich, auch du gehörst zu den SL-Senilitäten. Unverkennbar.
    Schon blickt er herüber, als hätte er

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