Die Schlaflosen
ein Geständnis, als gebe sie damit eine Schwäche zu.
So eine richtige Psychoanalyse mit viermal in der Woche auf der Couch?
Ihre Nachbarin blinzelt zu ihr herüber.
Dann kommen Sie bestimmt aus dem Westen?
Und im selben Atemzug meint sie, man könne sich doch mal mit Vornamen vorstellen, sie heiÃe Jeanine.
Das hört sich wie ein Dankeschön für das Geständnis an, ein Angebot zur Verschwisterung. Die Kollegin aus Berlin prostet ihr zu, nun ebenfalls ihren Vornamen nennend: Friederike. Und sogleich gibt es ein Hin und Her der Namen: Simon, Norbert, Peter Mulik ⦠und das AnstoÃen und Zuprosten unter Lachen und Lächeln bringt eine fast familiäre Stimmung auf.
Mulik, ist das auch ein Vorname?
Nein, das ist mein Familienâ¦
Und Sie, Ulrike?
Nein, Friederike!
Ah, so heiÃt meine Frau auch â¦
Und Jeanine? So französisch? In der DDR?
Ja, gerade da hat man das gemocht â¦!
Schön, Prost!
Aber hat es was geholfen?
Was?
Na, Ihre Psychoanalyse?
Friederike bedauert schon ihre Offenheit. Nein, so schnell gehe das ja eben nicht, sonst wäre sie nicht hier. Und von wegen Entschleunigung und so weiter ⦠sie habe zwar etwas gegen diese falschen Sehnsüchte nach einer langsameren Welt, aber bei der Analyse gehe es selbst ihr zu langsam. Erstes Gebot sei die Geduld. Alles gehe furchtbar zäh voran, und manchmal sei erst, wenn man eine Analyse beendet habe, der wirkliche Nutzen zu spüren. Das höre sie immer wieder von ehemaligen Patienten. Jahrelang dauert es eben, wenn man eine Malaise, die jahrelang entstanden ist, wieder loswerden oder wenigstens erträglich machen wolle. Mehr könne man sowieso nicht erwarten.
Jeanine hört einen Anflug von Tragik aus der Stimme Friederikes. Sie wundert sich darüber. Es hört sich nicht ganz echt an, wie immer, wenn sich jemand in dramatischem Ton über sich selbst äuÃert, denkt sie.
Dagegen ist die Spur zu meiner Schlaflosigkeit ganz einfach. Kein Rätsel, wann es angefangen hat mit den langen, zähen, nicht enden wollenden Nächten. Komplexe Gründe, die schwer zu erforschen sind â ach, wie gut wäre das. Alles grausam einfach. Zum Verzweifeln einfach. Der Januar 1999, der ihr Leben in einen Schatten gleiten lieÃ, in dem es mehr und mehr versank. Sie wird mit niemandem darüber sprechen. Bestimmt nicht hier. Und bestimmt mit keinem an diesem Tisch. Sie war siebenunddreiÃig Jahre alt und voller Hoffnung. Die Umschulung zur Versicherungskauffrau war geschafft, sie hatte gerade mit der neuen Stelle angefangen. Sie war ausgewählt worden, die Filiale im Osten mit aufzubauen. Alle Zeichen standen auf Zukunft. Sie hatte sogar noch die Rückübertragung des Hauses ihrer GroÃmutter im Frankfurter Stadtteil Altberesinchen hinbekommen. Die Stadt war gerade feierlich zur Kleiststadt gekürt worden, und Hendrik hatte lauter gute Noten in seinem Zeugnis, sein siebzehnter Geburtstag stand bevor. Die Mieter im Haus waren sogar bereit, mit ihr die Wohnung zu tauschen, sodass sie in das Haus der GroÃmutter, die im Westen wohnte, einziehen konnte.
Sie hat es nach und nach instand gesetzt. Wie ihr Sohn Hendrik sagte: in festen, sicheren, haltbaren Stand. Und wie er dann geschuftet hat, mit was für einer Kraft die Wände rausgeschlagen und neue eingesetzt und Steine geschleppt. Und wie stolz sie auf ihn war. Wie selbstbewusst er schien und Entscheidungen traf â âºwie ein Alterâ¹. Und seine Scherze mit »Apfelsinchen, Beresinchen, Jeaninchen«. Unvorstellbar dann das andere, von dem sie nichts ahnte. Oder doch?
Vielleicht doch?
Und was tun Sie dagegen?
Die Frage reiÃt sie aus ihren Gedanken.
Gegen was?
Gegen das, weshalb wir hier sind â
Jeanine fährt hoch. Die Tischgesellschaft kommt ihr mit einem Mal vor wie eine feindliche Phalanx. Sie sagt etwas von âºalles Mögliche, Pillen, Gesprächstherapie, Meditation, ach â¦â¹
Plötzlich überwältigt, fürchtet sie, in Tränen auszubrechen. Sie kann nicht weiterreden. Die Runde sieht es ihr an, niemand wagt etwas zu sagen. Zu groà ist die Erschütterung, die sie alle mit ansehen. Jeanine nimmt ihre Hand- tasche von der Stuhllehne und entschuldigt sich, sie komme gleich wieder.
Hab ich was falsch gemacht?
Friederikes Frage und ratloses Schulterzucken. Sie sieht der Davongehenden hinterher, eine schmale Frau mit langem Haar, das ihr bis zwischen die
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