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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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ihnen das Wochenende finanziert. Dass die Gesellschaft nicht nur Psychotherapeuten für ihre Angestellten beschäftigt, sondern in besonderen Fällen ihre Leute auch zu Veranstaltungen wie dieser hier schickt, finden die einen am Tisch »ungewöhnlich menschlich«, andere bezweifeln besonders humane Beweggründe des Konzerns, sondern sehen darin nicht viel mehr als das Ergebnis simpler Kalkulation.
    Die Frau aus Frankfurt an der Oder hat ihre ersten Arbeitsjahre zu DDR-Zeiten in der slawistischen Abteilung eines großen Verlags verbracht, eine Arbeit, die ihr Freude machte, die sie aber nach dem Mauerfall verlor. Es wurde ihr gekündigt. Die Umschulung zur Versicherungsagentin bot sich ihr durch Zufall an, und da sie eine alleinerziehende Mutter war, nahm sie diese Chance sofort wahr.
    Sie weiß nicht so recht, auf welche Seite sie sich bei der Debatte am Tisch schlagen soll. Ihre Neigung, das Einerseits und das Andererseits abzuwägen, sodass sie am Ende als die Unentschiedene oder vielleicht auch Verständnisvolle dasteht, kommt ihr selbst irgendwie charakterlos vor.
    Der ältere Herr am Tisch lebt da, wo der Stammsitz der Gesellschaft ist, in Köln. Er ist ein hohes Tier in der Hierarchie und kann allerlei Anekdoten zum Besten geben, mit denen er das Unternehmen auf die Schippe nimmt. Sein Büro hat er in einem Gebäude, das im Schatten der zwei Türme des Kölner Doms steht, und es gefällt ihm, immer wieder zu betonen, dass die Versicherung noch skrupelloser sei als der hohe Schattenspender nebenan. Seine Respektlosigkeit lässt die Frau aus Frankfurt nur staunen, und sie denkt die ganze Zeit darüber nach. Ob er schon immer so frech (ja, anders kann sie es nicht bezeichnen) seinem Arbeitgeber gegenüber gewesen ist, oder ob er sich nur deshalb so sicher fühlt in seiner Position, weil ihm nichts mehr passieren kann? Vielleicht weil er schon so alt ist, dass er es sich erlauben kann, in den Ruhestand gefeuert zu werden? Mit seinem Spott über die Konzernspitze und die Wichtigtuerei der höheren Angestellten bringt er die um den Tisch Sitzenden immer wieder zum Lachen.
    Unterstützung findet er in einer jungen Frau. Sie ist sehr schlank, trägt eine schwarze Lederjacke und hat ein Piercing im linken Nasenflügel, einen winzigen Brillanten, der in ihrem ebenmäßigen, von schwarzem kurzem Haar umrahmten Gesicht nicht vulgär, sondern seltsam edel aussieht. Sie ist mit dem Thema Entschleunigung beschäftigt, davon spricht sie jedenfalls jetzt. Die anderen verstehen so gut wie nichts von ihren Thesen, die sie mit leidenschaftlichen Gesten vorträgt. Vokabeln wie ›Algorithmus‹ oder ›transhuman‹ oder Namen wie ›Byung-Chul Han‹ sind ihr geläufig, als gehörten sie zu den Selbstverständlichkeiten ihres Alltags. Ihre Skepsis gegenüber dem Schlafpapst weiß sie in ätzende Bemerkungen zu packen. Sie nimmt an, er komme aus der Ecke der Wellness-Ideologen, die unheimlich viel Geld damit verdienen, dass sie den Überforderten und Kaputten unserer Gesellschaft falsche Versprechungen machen. Vor allem indem sie mit ihrem Geschwätz Hoffnung auf idyllische Verhältnisse wachrufen, die es niemals geben wird. Eine zynische Weltsicht, mit der diese Banden die durch die Schlaflosigkeit entstandene Einfalt der Patienten ausnutzen.
    So lästert die Exzentrikerin mit ihrem wohlgeformten blassgeschminkten Mund, und ihre bis zu den Brauen in dunkler Schminke liegenden Augen blitzen angriffslustig.
    Warum kommen Sie denn dann hierher?, will jemand aus der Runde wissen, und sie klappt die Handflächen nach oben, als fange sie warmen Regen auf.
    Man lässt eben nichts unversucht.
    Und warum, glauben Sie, können wir nicht schlafen? Gibt es für Sie einen Grund, der was mit diesen Algorithmen zu tun hat? Will die Frau aus dem östlichen Frankfurt wissen.
    Ja, das glaube sie. Es kämen in allen Fällen oder jedenfalls in den meisten ganz individuelle, ganz subjektive Gründe dazu. Natürlich. Aber auch diese hätten mit unserer Zeit zu tun. Ohne die Auswirkungen unserer Zeit sähen individuelle Verletzungen bestimmt auch anders aus. Davon sei sie überzeugt. Und auch davon, dass unsere Zeit einen krank mache. Sie selbst versuche, den besonderen Gründen ihrer Schlaflosigkeit mit einer Psychoanalyse auf die Spur zu kommen. Und die, stöhnt sie, sei ziemlich anstrengend …
    Das klingt fast wie

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