Die Schlaflosen
Verfertigung der Gedanken beim Reden, siehe Kleist. Das sei bei ihr der Fall, das könne sie. Und dass sie nicht alles so lange vereinfache, bis es am Ende nicht mehr stimme, das schätze er auch. Wenn es nach seiner privaten Meinung ginge, fände dieses Gespräch jetzt gar nicht statt, aber da seine private Meinung keine Rolle spiele, sondern die Quotenzwänge, müsse er ihr sagen, dass es nichts werde mit ihr als Moderatorin. Vielleicht wolle sie ja warten, bis eine Redaktionsstelle frei werde, das könne sie bestimmt gut.
In dieser Zeit traf das Angebot von der Versicherungsgesellschaft ein. Friederike hatte gar nicht mehr damit gerechnet, denn ihre Bewerbung lag so lange zurück, dass sie diese Möglichkeit schon ad acta gelegt hatte. Sie sagte sofort zu und fing nach einem kurzen und billigen Urlaub auf Teneriffa mit der neuen Arbeit an.
Sie hat einen guten Zugang zu jungen Leuten, vor allem zu Intellektuellen und Künstlern. Ihre stets schwarze Kleidung, meist Lederjacke und Jeans, ihr kurzes schwarzes Haar, der Brillant in ihrem Nasenflügel, ihr helles Gesicht mit den schwarz geschminkten Augen, kurz, ihr für eine Versicherungsangestellte ungewöhnliches Aussehen kommt ihr hier zugute, weil sie damit eine Kundenschicht anspricht, die im Allgemeinen wenig Interesse an der materiellen Absicherung im Alter hat.
Irgendwann musste Friederike sich eingestehen, dass sie Dinge im Leben haben wollte, die sie sich bis dahin versagt hatte. Sie lag auf der Couch ihres Analytikers, und plötzlich fiel es ihr ein: Du hast es dir einfach nicht gegönnt, sagte sie zu sich selbst. Dabei stand dir doch alles zu. Und der Analytiker korrigierte sie mit leiser Stimme: Es steht Ihnen zu. Auch jetzt. Ja, sagte sie, und wiederholte wie eine Schülerin, die beim Lernen ist: Es steht mir zu. Und ich nehme es mir.
Als sie Rolf kennenlernte und das Haus kaufte und die Hypothek aufnahm und die Verträge unterschrieb, kam sie sich vor, als spiele sie erwachsen. Als tue sie etwas, das nicht ihrem Alter entspricht. Selbst als sie Kinder bekamen und selbst noch als Lara ihren zehnten Geburtstag feierte, sagte sie âºFriederike und Rolf spielen erwachsenâ¹. Sie sagte es wie im Scherz. Damals konnte sie ein paar Jahre lang gut schlafen. Sie weià gar nicht, wann es angefangen hatte damit, aber es muss so um die Zeit der zweiten Schwangerschaft gewesen sein, und es dauerte genau bis zum zehnten Geburtstag ihrer Tochter. Dann fing es wieder an, dass sie morgens um drei oder vier wach wurde und darüber grübelte, was am Tag zuvor und was überhaupt in ihrem Leben geschehen war. Schlaftabletten halfen nur manchmal. Sie hat nie herausfinden können, wovon die Wirkung abhing. Sie hat es mit Diäten versucht und auf Alkohol verzichtet, aber alles half nichts. Auch die Psychoanalyse, die sie vor zwei Jahren anfing, hat bis heute nichts verbessert. Ihr ist, als tobe ein Unruhegeist in ihrem Kopf. Aber warum? Ich habe doch eine gute, vielleicht sogar glückliche Ehe. Aber woran bemisst sich Glück? Und überhaupt â wo kämen wir hin, wenn alle, die nicht glücklich sind, Schlafstörungen hätten? Solche Gedanken überschwemmen sie, wenn sie nachts wach liegt. Gibt es da etwas zu beklagen? Sie liebt ihre Kinder und sie hat immer noch Lust auf ihre Arbeit. Es gibt also keine Erklärung, nichts, was sie in auÃergewöhnlicher Weise belastet, was sie bedroht, nichts, wovor sie sich fürchtet, nichts, was sie nicht vergessen kann in ihrem Leben, weder eine unerfüllte Liebe noch ein traumatisches Ereignis, nichts. Alles ist â ihr fällt kein anderes Wort dafür ein â normal. Und darüber spricht sie nun seit Monaten auf der Couch mit ihrem Analytiker. Ãber dieses âºnormalâ¹. Dann wieder geht sie zu ihrem Arzt und lässt sich untersuchen â das Hirn, den Magen, die Hormone. Die Nerven, ach ja, die Nerven, und da wären wir wieder beim Hirn, denkt sie, wenn sie nachts wach liegt.
Ihr Nachbar zur Rechten, der Spötter Mulik, beobachtet sie. Ihm fällt das Zierliche ihres Gesichts auf, die Mädchenhaftigkeit ihrer Haltung, die ungewöhnliche Wölbung ihrer Stirn unter dem kurzen Haar, und er denkt, wie kann nur jemand, dessen äuÃere Erscheinung so ausgewogen ist, so klar, so harmonisch, ein solches Problem mit sich herumtragen?
Bei mir, sagt er jetzt ganz unvermittelt, bei mir hat es mit einem Unfall zu tun. Seit ich
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