Die Schlaflosen
Schulterblätter fällt, eine vielleicht Fünfzigjährige, die von hinten aussieht wie ein Teenager. Dagegen ihr undeutbares Gesicht mit entzündeten Mundwinkeln und einer Haut, die so dünn aussieht, als nehme sie täglich Cortison. Seltsam, denkt Friederike, der Schlafmangel macht uns alle seltsam. Wer weiÃ, wie ich auf andere wirke.
Man kann sich total irren, sagt sie in die Runde, die verwundert auf diese unvermittelte ÃuÃerung zu Friederike hinüberblickt. Mulik, der Kölner, der sich mit Peter vorgestellt hat, will wissen, was sie damit meine.
Ja, wie man sich selbst einschätzt und wie andere einen sehen. Meinen Sie nicht, dass da ein Riesen-Täuschungspotenzial ist?
Oh ja, das ist ein Thema, besonders in einem Betrieb wie unserem, wo jeder jeden seit Jahren kennt und wo man fast schon eine zweite Identität gebildet hat, die Büro-Identität, die eine ganz andere ist als die Privat-Identität. Das müsse er zugeben. Vor allem da ihm jetzt, wo er alt sei und kurz vor der Pensionierung stehe, eine interessante Erkenntnis gekommen sei.
Und die wäre?
Friederike sieht ihn aus ihren sehr dunklen Augen an, ihr Blick sprüht vor Neugier.
Ja, es habe sich gezeigt, dass, wenn er wirklich einmal offen und ehrlich seine Meinung sage, er unerwarteten Erfolg damit habe. Einmal nach einem Mittagessen mit Wein, eigentlich aus einer beschwipsten Laune heraus, habe er es ausprobiert und sich über die Reaktionen gewundert. Seither sage er immer, was er denke, selbst wenn es das Gegenteil dessen sei, was seine Verbündeten von ihm erwarten ⦠er sage jetzt einfach seine Meinung, basta ⦠und siehe da, es funktioniere.
Erzählen Sie mal ein Beispiel, fordert Friederike ihn auf.
Ja, etwa bei einer dieser unglaublich berechenbaren Sitzungen des Personalrats, dessen Vorsitzender er lange Jahre gewesen sei. Er als alter Hase habe sich erlaubt, zu sagen, dass er all ihre Forderungen diesmal nicht unterstützen werde. Weil alle völlig sinnlos seien und nichts bringen würden, überhaupt nichts. Und dass er es satt habe, aus sogenannter Solidarität heraus gegen das zu stimmen, was er wirklich denke. In den vielen Jahren habe er nämlich festgestellt, dass man oft weiterkomme, wenn man eine gewisse Paradoxie verfolge, also das Gegenteil von dem tue, was man anstrebt. Daraufhin seien plötzlich alle auf seiner Seite gewesen.
Wissen Sie was? Es ist eine Befreiung, öffentlich zu zweifeln! Es war wie ein Zaubertrick! Und nach dem ersten Mal habe ich noch zugelegt. Habe alles gesagt, was ich schon immer sagen wollte, habe, wie soll ich sagen ⦠endlich mal mein Privat-Ich sprechen lassen. Nach vierzig Jahren!
Friederike kann gar nicht genug hören und stellt immer weitere Fragen. Endlich etwas Spannendes, denkt sie, der Mann hat Mut, denkt sie, aber er hat ja auch nichts mehr zu verlieren.
Sie hat Soziologie und Pädagogik studiert. Ein paar Jahre ungewisses Dozentendasein an verschiedenen Fachhochschulen, einmal an einer Universität, Verträge für ein, zwei Semester, dann wieder Umzug, Wechsel. Bis sie feststellte, dass es so nicht weitergehen kann.
Damals fing es an damit, dass kaum eine Nacht verging, in der sie nicht morgens gegen drei aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte.
Ein Versuch, bei einer lokalen Fernsehanstalt eine Sendung über Wissenschaftsthemen zu moderieren, scheiterte an ihrer Unfähigkeit, einfache Sätze zustandezubringen. Sie sprach so umständlich, dass sich Zuschauer beschwerten, man könne sie nicht verstehen. Der Programmdirektor bestellte sie zu sich, um ihr taktvoll klarzumachen, dass sie mit dieser kleinen Eigenheit, wie er sich ausdrückte, keine Karriere als Moderatorin anstreben könne. Er und sein Team hätten lange darüber beraten, alle seien von ihrer Intelligenz und auch von ihrer Wirkung auf dem Bildschirm begeistert. Aber die Sache mit den komplizierten Sätzen sei nicht möglich beim Fernsehen. Sie brauche ja quasi die doppelte Zeit für ihre Mitteilungen. Er wolle nicht den professionellen Quasslern das Wort reden, aber so gehe es eben auch nicht. Obwohl er es persönlich sympathisch finde, wenn Moderatoren beim Sprechen denken, er finde das viel besser als wenn jemand drauflosschwalle wie so viele in diesem Gewerbe. Wenn jemand mal wirklich Spannung dadurch hervorrufe, dass er eine Pause mache und sichtbar denke, sei das gut, sehr gut sogar. Die allmähliche
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