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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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diesen Unfall hatte, kann ich nicht mehr schlafen. Denn eigentlich bin ich von Natur aus ein ganz einfacher Schläfer – völlig anspruchslos, meine Frau konnte schnarchen, so laut sie wollte, draußen konnte der Verkehr vorbeidonnern, aber ich konnte immer schlafen. In der Familie machte man sich sogar lustig über mich und meine Fähigkeit, überall und zu jeder Zeit und auch in jeder Lage in Schlaf zu versinken. Bis zu einem Unfall, den ich vor vielen Jahren hatte, einen idiotischen Unfall.

Peters Unfall
    Damals in den Ferien, als du mit deinem alten Lancia an einer Kreuzung haltmachtest und versuchtest, dich zu orientieren, mitten auf dem Land, nahe der Küste, an einer Stelle, die so einsam lag, dass man dachte, hier käme höchstens dreimal am Tag ein Fahrzeug vorbei, du saßest vorn am Steuer und hinten auf dem Kindersitz saß Andi, er war gerade sechs geworden, du hieltest den Fuß auf dem Pedal und wartetest, dass einer der vier Wagen, die an der Kreuzung einander gegenüberstanden, sich in Bewegung setzen würde, aber keiner der Fahrer konnte sich entscheiden, keiner schien zu wissen, wer Vorfahrt hat … du sagtest noch zu dir selbst, du kannst in Ruhe warten, schließlich hattest du alle Zeit auf Erden, ein seltener Zustand … Andi vergnügte sich mit dem Hersagen einer Otto-Nummer, von der er eine Kassette besaß, die er immer wieder hörte und bald auswendig konnte, er hatte richtige kleine Auftritte damit und brachte die Erwachsenen zum Lachen und erfand ständig kleine Variationen, die dich entzückten, ein Beweis seiner Intelligenz, ja … und um ehrlich zu sein, hast du ihn regelrecht hingeschubst, wenn Gäste da waren und er seinen Gutenachtkuss haben wollte, dann hast du ihn dazu gekriegt, wieder die Otto-Nummer zu geben, bis Helga meinte, jetzt reicht’s!, und dir abends im Bett Vorwürfe machte, du erziehst ihn zu einem richtigen Wichtigtuer, du machst einen Kasper aus ihm … jedenfalls saß er hinten im Auto und gab mehr sich selbst als dir eine neu abgewandelte Vorführung, mit künstlicher Stimme, so wie man sie auf den Kinder-CDs hört, die damals Mode waren, Erwachsenenstimmen, die auf nervtötende Weise so tun, als kämen sie aus Kindermund, kaum zu ertragen, und als du in deinem alten Lancia an der Kreuzung standst und überlegtest, ob du einfach losfahren solltest, sagtest du, Andi, kannst du mal eine Minute still sein, ich muss mich wirklich konzentrieren, in diesem Moment nahmst du wie im Traum wahr, dass der Wagen von rechts losfuhr und zugleich einer von links heranraste, und wie die beiden in der Mitte der Kreuzung aufeinanderstießen, im nächsten Moment gab es einen Knall, einen Wahnsinnsstoß, der Lancia schleuderte durch die Luft, du konntest es in Zeitlupe sehen, hingst mit dem Kopf nach unten und schobst deinen Arm zwischen den Rücklehnen zu Andi, versuchtest, nach ihm zu greifen, als du etwas Nasses, Heißes spürtest … diesen Moment wirst du nie vergessen … es dauerte eine Ewigkeit, bis du verstanden hattest, was passiert war, und dass dein Wagen auf einem Acker gelandet war und halb auf dem Dach lag, eingehüllt in Brandgeruch und Rauch … du weißt nicht mehr, wie es dir gelang, dich aus dem Wrack herauszuwinden und Andi aus seinem Kindersitz zu befreien, aber du musst alles richtig gemacht haben, die richtigen Griffe, auf unerklärliche Weise hast du funktioniert, bis du dich kniend auf der Erde wiederfandst, Andi im Arm, umgeben von Reifen, Blechteilen, Fetzen, brennendem Zeug und schreienden Menschen, du hieltest ihn im Arm und robbtest auf Knien aus den Rauchschwaden, während Blaulicht Andis kleines entgeistertes Gesicht beleuchtete, sein Ärmel war von Blut getränkt, du konntest sehen, wie es dunkel durch den Stoff pulsierte … Andi, der nicht weinte, sondern wie von Sinnen und lachend ›Autounfall, Autounfall …‹ schrie, und ›Tatütata Tatütata …‹ und mit seinem unversehrten Arm wild fuchtelte, er merkte nicht einmal, dass er verletzt war, er wollte nicht aufhören mit dem überdrehten Quäken, ›Autounfall, Autounfall …‹, und du dachtest, er ist verrückt geworden, dein Sohn ist wahnsinnig geworden … du versuchtest, ihn zu beruhigen und zu streicheln, und plötzlich konnte er die linke Hand nicht mehr anheben, und während er mit schwächer werdender Stimme weiter sein

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