Die Schlaflosen
flackernden Kerzen, die glänzenden Tellerstapel und die Körbe mit frisch aufgebackenem Brot. Den Gästen soll es an nichts fehlen, das ist das Beste, was man aus der verfahrenen Situation machen kann. Aus der Not eine Tugend, das war schon immer ihre Strategie, das hat sie von ihrem Vater gelernt. In diesem Fall ist die Tugend eine Werbeveranstaltung für das Hotel. Es allen zeigen! All den Zweiflern und Meckerern beweisen, was für eine vorzügliche Bewirtung hier zu haben ist! Was für ein schöner Ort! Was für erlesene Weine! Was für eine charmante Bedienung!
Miriam schwelgt in Superlativen, als sie den zu später Stunde verzagten Bülow aus seiner pessimistischen Laune zu holen versucht. Komm, Liebling, nicht schwarzsehen ⦠auch negative Energien kann man nutzen, man kann sie in positive verwandeln, das geht mit einem ganz kleinen Trick. Du musst nur im Kopf einen Schalter umlegen. Es ist nur eine Sache des Bewusstseins. Komm schon, nicht den Kopf hängen lassen, alter PreuÃe ⦠und sie gibt ihm mit der zusammengerollten Speisekarte einen Klaps auf die Brust.
Sie selbst will den Rotwein ausschenken, den âºLes enfants du paradisâ¹. Für die Nacht hat sie sich umgezogen. Jetzt trägt sie nicht mehr den verspielten Rock, dessen durchsichtiger Saum Rottmann vor ein paar Stunden so bezirzt hat, sondern ein schwarzes, kurzes Kleid ohne Ãrmel, dessen Einfachheit das EbenmäÃige ihres Körpers noch hervorhebt. Und sie ist sich ihrer Wirkung sicher. Kleine Katastrophen sind genau das, was sie belebt. Sie hat alles im Blick, nichts entgeht ihr, weder die Veränderung der Moll, noch die leichte Zerstreutheit dieses Rottmann, noch der Alkoholisierungsgrad der drei Männer, die aus der Sauna kommen und sich Herrenwitze erzählen. Aber sie ist fest entschlossen, das Ganze als eine Herausforderung zu nehmen. Ein paar Ungeduldige haben sich an der Tafel versammelt und strecken ihr schon die Gläser hin, um den edlen Tropfen darin zu empfangen.
Peter Mulik, soeben aus seinem Zimmer zurückgekehrt, wo er sich ausgeruht und vielleicht sogar kurz geschlafen hat, er weià es nicht so genau, betritt den Raum und blickt um sich. Die Begegnung mit der Moll hat ihn in einen merkwürdigen Zustand versetzt. Wie betrunken ist er davon. Bei dem Gedanken daran, was er ihr anvertraut hat, stockt ihm der Atem. Ihm ist einen Augenblick lang schwindlig davon. So sinnierend, hält er Ausschau nach dem schwarzen Lockenschopf, der grünen Kette, dem hellen Gesicht. Inmitten der plaudernden Gäste steht er da und wundert sich über sich selbst. Der Raum sieht jetzt anders aus als noch kurz zuvor â feierlicher, gröÃer, fremder. Und indem Mulik sich der Tafel nähert, die so einladend dekoriert ist, hört er eine Unterhaltung zwischen zwei Gästen mit an. Es geht um eine junge Frau, die sich vor aller Augen nackt ausgezogen habe, völlig schamlos. Alle hätten es gesehen, und sie sei seelenruhig nackt im Sessel sitzen geblieben, bis dieser Herr vom Empfang, dieser Sadow oder Sandow, sie nach hinten in ein Zimmer verfrachtet habe.
Die Frau ist wahrscheinlich psychisch gestört, ziemlich durchgeknallt, die Arme. Na ja, so was kann passieren, vor allem wenn einer wirklich sehr lange nicht schlafen kann. Achgott, ist das ein Kreuz â¦
Darauf verständigen sich die beiden, und als die eine flüstert, ach, da ist sie ja, und in Richtung Flügel blickt, wendet auch Mulik seinen Blick dorthin.
Ist das nicht die Moll? Mulik strengt die Augen an. Irgendwie sieht sie anders aus als vorhin. Ihr Haar ist aus der Stirn gekämmt, als sei es nass. Auch hat sie ihre auffällige Kette abgelegt. Groà und dunkel steht sie da, ganz allein. Sie hält ein Glas in der Hand und blickt versonnen über alle hinweg. Er kann sie nicht genau sehen, das Licht ist zu schummrig, die Kerzenbeleuchtung bewirkt eher ein verwirrendes Schimmern als klare Helligkeit. Ãberhaupt irritiert ihn das Geplapper und dieses unaufhörliche Klaviergeklimper im Hintergrund. Seit der Arzt letztes Jahr nach einem Hörsturz bei ihm Schwerhörigkeit festgestellt hat, kann er auch immer schlechter sehen. Er war beim Augenarzt, aber der konnte keine Veränderung diagnostizieren, keine in Dioptrien messbare Verschlechterung jedenfalls. Es scheint eine innere Verwirrung zu sein, die damit zu tun hat, dass die Schwerhörigkeit ihn in einer Weise beeinträchtigt,
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