Die Schlaflosen
würde er sich auf den Kerl stürzen und ihm âºdie Fresse polierenâ¹. Genau das fällt ihm jetzt ein.
In dem Moment ruft eine Frau aus dem Publikum: Hören Sie, wenn Sie so gut zaubern können, dann zaubern Sie doch, dass wir einschlafen!
Es ist Frau Blau, die vorhin noch so wüst schimpfte und fast die ganze Gesellschaft in eine Art Mini-Bürgerkrieg gezogen hätte.
Der Zauberer schüttelt den Kopf, das könne er nicht. Aber vielleicht könne er es bei einer einzelnen mutigen Person versuchen. Versprechen jedoch könne er nichts ⦠Frau Blau erklärt sich bereit dazu. Mit seinem langen grazilen Zeigefinger dirigiert er sie geradewegs zu sich hin, vorne zum Flügel. Sie folgt ihm wie ferngesteuert. Er empfängt sie mit ausgebreiteten Armen: Ah, die werte Kandidatin!
Der Slalom um die Tafel herum und zwischen den vielen kreuz und quer stehenden Sesseln war gar nicht so einfach, aber sie hat es ohne Umstände geschafft. Sie wirkt auf einmal so leichtfüÃig, wie man es ihr, die man Dame zu nennen geneigt ist, nicht zugetraut hätte.
Sie müssen alles tun, was ich Ihnen sage, flüstert der Zauberer. Sie nickt. Er nimmt sich Zeit, viel Zeit. Das Publikum verstummt. Es ist jetzt so leise, dass man nur hie und da ein Räuspern oder unterdrücktes Husten hört. Was nun weiter geschieht, ist von den Zuschauern kaum nachzuvollziehen. Der Zauberer bringt es fertig, die Frau allein mit den Händen, ohne jede Anstrengung, auf den Flügel zu heben.
Da liegt sie nun rücklings ausgestreckt. Dem Publikum bietet sich aus dieser Perspektive nur ihr nach unten fallendes blondes Haar, während ihre in spitzen zierlichen Schuhen ausgestreckten FüÃe in Richtung jener Skulptur zeigen, über deren künstlerischen Wert sich so gut streiten lässt. In diesem Moment ertönt ein leise gesungenes Schlaflied, Schlafkindleinschlaf ⦠Niemand weiÃ, wer es singt, der Zauberer jedenfalls scheint es nicht zu sein, seine Lippen bewegen sich nicht. Vielleicht ist er ein Bauchsänger? Er ist damit beschäftigt, sich zu versenken. Theatralisch neigt er sein Gesicht, um es dann lächelnd dem Licht entgegenzuheben. Dann wieder beugt er sich über die Frau und murmelt etwas. Es sieht fast aus, als würde er sie küssen wollen.
Dies alles ist für die Zuschauer gut sichtbar, denn der auf den Flügel scheinende Strahler ist sehr hell. Die übrigen Lichter sind erloschen, Miriam, die Kluge, hat sie ausgeschaltet. Nur die Kerzen flackern noch, und im unruhigen Halblicht dämmern die Gäste vor sich hin. Der Zauberer fährt mit seinen groÃen, gespreizten Händen über den Körper der Frau. Aber er berührt sie nicht. Es ist, als streiche er eine Aura nach, die sich um ihre Haut gebildet hat. Wie eine feierliche Beschwörung zelebriert er seine Vorführung.
Bülow, der immer noch zuschaut, denkt, was für ein Quatsch, was für eine Idiotie! Auch Rottmann verzieht spöttisch den Mund. Wenn er etwas verachtet, dann sind es diese Modegeschichten, die sich als Energy-healing und Naturtherapie anpreisen, dieser ganze Firlefanz, dem vor allem bestimmte Frauen verfallen, die nicht merken, dass ihnen damit das Geld aus der Tasche gezogen wird.
Und wieder ertönt eine Art Schlaflied, eher ein gesummtes, in dessen Verlauf nur wenige Male das Wort âºRuheâ¹ zu verstehen ist, dann: âºTiefe tiefe Nachtâ¹. Es ist eine beinahe melodielose Tonfolge, die der Zauberer jetzt vor sich hin summt, immer langsamer in seinen Bewegungen werdend.
Dem Publikum bedeutet er, mitzusummen. Dabei kommt aber eher ein erbärmlicher Chor zustande, der kurz anhebt und sogleich wieder abflaut. Trotzdem schläft die Frau auf dem Klavier ein. Ihre Lider sind zugefallen, die von dem Zauberer als Zeugin herbeigerufene Miriam bestätigt es. Die nickt und hebt beide Daumen in Richtung des Meisters als Zeichen ihrer Bewunderung.
Ja, es hat geklappt!
Aber was nun? Wohin mit der Schlafenden, will man verhindern, dass sie wieder aufwacht? Kurz und flüsternd wird darüber beraten, bis zwei in erster Hilfe kundige Kellner sie auf eine schnell herbeigeschaffte Rettungsliege rollen, so leicht und so geschickt, dass sie tatsächlich weiterschläft. Sie decken sie zu und bringen sie nach oben in ihr Zimmer.
Das Publikum erhebt sich, der Zauberer verbeugt sich und legt seinen Zeigefinger auf den Mund. Auf Applaus wird verzichtet.
Wer
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