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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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die sich auch auf die anderen Wahrnehmungsorgane auswirkt. Und so ist es auch in diesem Moment, er hat das Gefühl, kaum sehen zu können.
    Ja, er fragt sich sogar, ob die Frau da hinten überhaupt die Moll ist oder jemand ganz anderes. Solche Täuschungen sind ihm in letzter Zeit öfter passiert. Seither kommt es vor, dass er seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut. Die Frau sieht aus wie eine Figur in einem impressionistischen Gemälde, auf dem vage Schemen zu erkennen sind, aber nicht genau identifizierbare Gesichter und Menschen. Und Mulik denkt, vielleicht war der ganze Impressionismus nur die Erfindung von ein paar verrückten Kurzsichtigen und Schwerhörigen, wer weiß. Eine gelehrte Begründung findet man immer hinterher … Er grinst in sich hinein, der Gedanke gefällt ihm. Na, da kann ich mich ja in Ruhe der Verwirrung hingeben, egal was der Abend bringt. Wie ein Kind kommt er sich vor in diesem Moment, wie der Junge von früher, der er einmal war und der kopfüber in dunkles Wasser springt, mitten in die Wasserschlangen, Frösche und Ungeheuer hinein.
    In diese akustische und optische Verunsicherung dringen vom Empfang her plötzlich männliche Stimmen. Mulik horcht auf. Ja, da scheint was los zu sein, mal sehn, wer da an wen geraten ist. An die Tafel mit Leckerbissen will er sich ohnehin erst später machen, er hasst es, sich drängeln zu müssen. Und so nimmt er den Weg zur Rezeption durch die Bibliothek. Hinter einem Wandvorsprung findet er einen guten Beobachtungsposten. Tatsächlich, es gibt richtig Krach dort. Kein Wunder, eigentlich hat er nur darauf gewartet, dass jemand ausrastet. Herr von Bülow ist dabei, sich drei jungen Männern gegenüber zu rechtfertigen. Unter diesen ist auch Norbert, der lockige Kollege, der vorhin mit seiner Mördertheorie die Moll so verstört hat. Mulik stellt sich in Hörweite. Die drei bestehen darauf, ihr Geld zurückzubekommen. Schließlich seien sie nur hier, weil sie dieses Seminar besuchen wollten, das jetzt, wie sich herausstelle, überhaupt nicht stattfinde.
    Ist ja wohl eine einzige Verarschung, ruft der Kollege aus. Zornig fordern die drei, aus dem Vertrag entlassen zu werden. Der eine hat Tasche und Mantel bei sich und kündigt an, einen Riesenkrach zu schlagen, falls Bülow ihn nicht sofort ohne jedwede Kosten auschecken lasse. Er sei Journalist, er könne das ganze Affentheater hier auffliegen lassen.
    Bülow bleibt ganz ruhig. Es sei nicht sein Fehler, dass der Professor nicht komme, er könne die Empörung ja verstehen, aber man müsse doch unterscheiden. Nicht er sei dafür verantwortlich, sondern einzig und allein der Professor, der nicht komme. Der Kollege, der in Muliks Augen wie ein Hippie aussieht, unterstützt seinen Mitstreiter und schlägt dabei mit der Faust auf den Rezeptionstisch. Er droht sogar eine Untersuchung des Falls an. Nicht umsonst sei er Versicherungsfachmann, brüllt er, um sogleich mit schneidend kalter Stimme anzukündigen, dass ihn, Bülow, dies einiges kosten werde, wenn herauskommen sollte, dass das Ganze hier Schwindel sei. Dass er die Gesellschaft nur hierhergelockt habe, um seine marode Bude zu füllen.
    Dann können Sie Ihren Laden dichtmachen, faucht er, und bei der Eisesmiene, die er dabei aufsetzt, muss Mulik unwillkürlich lachen.
    Ich muss doch sehr bitten, sagt Bülow kühl, aber es ist ihm anzusehen, dass er kaum noch an sich halten kann.
    Jetzt mischt sich auch der Dritte ein. Auch er ist reisefertig und kündigt an, dieses Schmierentheater zu verlassen, und zwar für immer. Nie wieder wolle er einen Fuß in diese Bruchbude setzen. Schon der Anblick von außen, diese verrottete Fassade, die miese kleine Sauna mit dem unappetitlichen Holzpott, diese säuselnde Asiatin …
    Und Bülow wiederholt: Ich muss doch sehr bitten!
    Dabei geht er auf den Mann zu und hält ihm die Faust unters Kinn, eine Geste, die Mulik ihm nie zugetraut hätte.
    Der Mann muss betrunken sein. Er ist der Konsonanten nicht mehr mächtig und lässt sie immer fahriger ineinanderfließen, sodass man jetzt, wo sich seine Empörung steigert, aber seine Zunge ihren Absichten nicht mehr folgen kann, nur noch ein Lallen hört, einen Vokalbrei, der bald in seiner Lautstärke abflaut.
    Plötzlich kippt er um. Die beiden anderen packen ihn und halten ihn auf den Beinen. Das Haar hängt ihm in die Stirn, er stützt sich auf

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