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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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hätte das gedacht
    Ist das nicht da oben Margot? Da hinter dem Geländer?
    Rottmann streckt sich – tatsächlich, er erkennt sie, sie ist es, sie sitzt auf der Empore und blickt durch ein Sichtloch in dem ziselierten Geländer nach unten. Vom langen Hocken sind ihre Muskeln verspannt, und sie ist gerade dabei, ein paar Lockerungsübungen zu machen, den Kopf zu rollen, die Beine anzuheben und zu strecken, da erscheint Rottmann auf der Wendeltreppe.
    Wie geht es Ihnen? Was treiben Sie so? Wollen Sie nicht herunterkommen und sich unters Volk mischen?
    Nein, sie will nicht. Sie ist genau an der richtigen Stelle hier. Die Leute da unten ängstigen sie. Lieber nimmt sie die Dienste Rottmanns in Anspruch und lässt sich von ihm ein Glas Rotwein heraufbringen. Und vielleicht noch ein Kissen, damit es bequemer ist.
    Da sitzen sie nun beide etwas angeschlagen, jeder auf seinem Kissen, nahe bei den Büchern, angelehnt an die Wand. Sie prosten einander zu: Auf die Nacht! Auf den Schlaf! Auf das ersehnte Dunkel! Auf das Schwarz, das undurchdringliche Schwarz, in das wir sinken wollen! Die Gläser sind bald schon wieder leer.
    Rottmann streicht über die Buchrücken. Sehen Sie, wir haben kein schlechtes Plätzchen gefunden, man könnte hier die Nacht verbringen. Sogar eine Leselampe gibt es da oben, und er weist auf einen am Regal angeklemmten Strahler. Ob wir es als Zeichen ansehn sollen, wo wir gelandet sind? Was machen Sie denn, wenn Sie nicht schlafen können? Lesen Sie auch so viel? In meiner Wohnung ist kein Zettel, den ich nicht mehrmals durchgelesen habe, unsre Wohnung quillt über von Büchern, und in meinem Arbeitszimmer kommt man nur noch durch einen schmalen Gang zu meinem Zeichentisch. Überall Bücherstapel. Ich rede mit meinen Büchern und sie reden mit mir. Ich sehe sie an und sie sehen mich an, ich stelle ihnen Fragen und sie antworten, sie lassen mich nie alleine … ohne sie wäre ich tot … sie führen ein geheimes Leben mit mir, über das ich kaum mit jemandem spreche … meine Frau liest wenig, schon gar keine Romane, und sie ist zufrieden, zu wissen, dass ich nachts nichts Schlimmeres tue als lesen … sie ahnt ja nicht, was Lesen für mich bedeutet …
    Das hört sich ja fast an, als würden Sie Ihre Frau mit Büchern betrügen –
    Ja, so kommt es mir auch manchmal vor, ich lebe in anderen Welten, und ich verliebe mich in Menschen, von denen ich meiner Frau kaum etwas erzählen kann. Lese ich ihr etwas vor, versteht sie oft überhaupt nicht, was mich daran fesselt oder abstößt oder erotisiert … Hier, sehen Sie mal, was da neben uns steht. Kennen Sie das? ›Einer Keiner Hunderttausend‹ – die Geschichte eines Mannes, der seine vielen Ichs erkennt und darüber im Irrenhaus landet. Es ist eines meiner Lieblingsbücher …
    Ich kann nachts nicht lesen, mir fallen die Augen zu nach ein paar Seiten, ich bin zu müde in der Nacht, sagt Margot. Ich tue das, was die meisten tun –
    Und das wäre?
    Na ja, die Glotze – machen Sie das nie?
    Doch, auch, aber das eine schließt das andere ja nicht aus.
    Das Dumme ist nur – ich kann es nicht mehr ertragen. Immer dieselben Gesichter, immer dieselben Geschichten, alles ist, wie soll ich sagen, abgelabert … Bei manchen Gesichtern ist es mir schon peinlich, wenn ich sie sehe, alt geworden, mit mir zusammen alt geworden … es ist mir peinlich, weil sie mir leidtun, und sie tun mir leid, weil sie nicht zu ahnen scheinen, dass ihre Gesichter wie abgegessene Teller wirken, wie … wie missbraucht, von sich selbst missbraucht. Ich schäme mich für sie und für mich selbst schäme ich mich, dass ich nicht aufhören kann, sie immer und immer wieder zu sehen … Ich gehe gegen zwölf ins Bett, wache um zwei auf, nehme eine halbe Tablette, merke, sie nützt nichts, stehe wieder auf, trinke warme Milch, ekle mich dabei, lege mich wieder hin, schiebe mir das Kopfkissen so, dass es weich meine rechte Gesichtsseite umfängt, das ist wichtig, und es ist auch wichtig, dass es immer dasselbe Kissen ist und auch danach riecht, und wenn ich dann nicht einschlafen kann, mache ich den Fernseher an und zappe mich durch, bis ich etwas gefunden habe. Obwohl sie mich so anöden, diese immer selben Gesichter, bleibe ich doch Nacht für Nacht an ihnen hängen, sie sind wie meine Familie … und dann kann ich manchmal wieder

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