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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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anfangen, zu tanzen.
    Margot hat sich aufgerichtet und mit den Ellbogen auf das Geländer gelehnt. Sie nippt an ihrem Glas und blickt auf die Tanzenden. Wie lange hab ich nicht mehr getanzt, denkt sie wehmütig. Der Wein ist ungewöhnlich warm und löst mit jedem Schluck Verwunderung aus – Verwunderung über alles, was hier geschieht. Rottmann erhebt sich von seinem Kissen und gesellt sich zu ihr. Sehen Sie, da ist sie ja, die von der Singtherapie, Margot weist zu einer Frau in einem roten kurzen Kleid, die im Durchgang zur Bibliothek steht und dem Treiben zuschaut. Die kleine Blasphe- mikerin, sagt Rottmann und versucht sich vorzustellen, wie sie diesen dämlichen Text ganz ernsthaft singt.
    So stehen sie beide da und schauen nach unten. Irgendwann legt Rottmann den Arm um Margot. Nein, er bewegt nicht die Finger, und die Stelle, an der seine Hand liegt, ist auch ganz unverfänglich.
    Aber als er unten die Moll entdeckt, die gerade Sandow umschlingt, um ihn zwischen zwei Sesseln zum Tanzen zu bewegen, überträgt sich von diesem Anblick etwas auf Rottmann, ein Funke Übermut. Jedenfalls greift er jetzt zielstrebig zu, lässt die Hand weiterwandern, setzt die Finger in Bewegung, drückt da und dort zu, klimpert leicht über Margots Brust, legt den Mund in ihren Nacken, schnurrt und schnauft und wandert vor über ihre Wangen bis zu ihren Lippen. Und endlich ein entschiedener, hingegebener, langer und wirksamer Kuss.
    Wer hätte das gedacht!
    Jetzt liegen die beiden auf der Empore, Rottmann auf dem Rücken, Margot über ihm, als wären sie ganz für sich und nicht inmitten einer lauernden Gesellschaft. Margot hat ihre Kappe fallen lassen, sie hat es gar nicht gemerkt, und wenn, dann wäre es ihr egal. Die beiden haben Erfahrung genug, um sich nach ein paar Versuchen so oder so auf einen Takt zu einigen. Die hochströmende Tangomusik tut das Ihre dazu, die Geräusche der Tanzenden, der Wein, seine betäubende Milde, alles regt an. Der letzte Tropfen ist auf Margots Fingerspitze gelandet, mit der sie ihn dahin führt, wo Feuchtigkeit gefragt ist – eine seit Jahren kaum berührte Stelle, wenn man von medizinischen Ausnahmen absieht. Margot spielt auf Zeit, sie erinnert sich an alles. Rottmanns zu Anfang gewaltige Stärke hat nachgelassen. Sie kennt das, es hat nichts zu bedeuten. Sie hilft ihm ein bisschen, sie weiß noch, wie man das macht. Sie hat nichts vergessen. Atmend und leise stöhnend wachsen Rottmann und Margot zusammen. Ihre Zielstrebigkeit ist schnell aufeinander abgestimmt, mit knappen Wörtern treiben sie sich an, halten inne, machen weiter, geben kurze Signale, küssen sich wieder, beteuern einander etwas, geben sich noch mehr hin, bis sie sich auf die letzte absolute Anstrengung einigen und niedersinken, vollkommen erschöpft. So bleiben sie lange liegen, Margots Wange auf Rottmanns Brust. Sie kann seinen Herzschlag hören, und vielleicht schlafen sie sogar ein Weilchen, niemand weiß es.
    Bis Margot aufsteht, nach ihrer Kappe greift, ihre Strumpfhose hochzieht und nach den Schuhen angelt. Rottmann hat die Augen geschlossen, sie küsst ihn vorsichtig auf die Lider, er antwortet mit einem Lächeln. Dann packt sie ihre Handtasche und klettert die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen. Er liegt da, tief atmend, fast wie im Schlaf.
    Irgendwann später rafft er sich auf, reagiert nicht auf das erschrockene ›Oh Pardon!‹ der auf der Treppe erscheinenden und schnell wieder verschwundenen Friederike, zieht den Reißverschluss seiner Hose hoch, schließt die Gürtelschnalle und lässt sich von neuem auf dem Kissen nieder, um in aller Seelenruhe eine Zigarette zu rauchen.
    Während er den Rauch von sich haucht und die Nase in den aufsteigenden und sich ausbreitenden bitteren Duft hält, glimmen ferne Bilder in ihm auf. Er sieht sich selbst an einem Küchentisch sitzen. An einem Ende des Tischs steht eine Nähmaschine, neben dem Teller mit der Stulle das zur Seite geschobene Rasierzeug eines Mitbewohners, ein Spiegel zum Aufklappen, ein hochgestellter dicker Pinsel, dessen feuchte Haare Spitzen bilden, und ein Aluminiumtöpfchen mit einem Rest Rasierseife. Im Ofen knistert das Feuer, es ist warm. Die Mutter sitzt am anderen Ende des Tischs vor der Nähmaschine und raucht. Ein herber Geruch erfüllt die Küche, die Mutter hat das Haar zurückgekämmt. Sie sieht seltsam aus, seltsam

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