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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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fremd, und er weiß nicht, warum. Er hält die Handmuschel über den Pinsel und stupst darauf. Die Mutter schaut ihm dabei zu. Sie ist so anders, dass er nicht wagt, sie anzusprechen. Er sitzt vor seinem Teller mit der Stulle, aber er rührt sie nicht an, und von der Mutter kommt auch kein ›Iss, Junge, los, iss!‹. Er und die Mutter sind gefangen in dem Rauch und dem Knistern und in dem Schweigen der Mutter. Die raucht und raucht eine Zigarette nach der anderen, und wenn sie die eine Zigarette zu Ende geraucht hat, zündet sie die nächste an dem glimmenden Ende der letzten an, die sie auf dem Teller ausdrückt. Sie schaut zu ihm hin und auch wieder nicht. Er traut sich nicht, aufzustehen, sondern bleibt sitzen und schaut der Mutter dabei zu, wie sie ihn anschaut und durch ihn hindurchschaut und raucht und den Rauch heraushaucht, und wie sie nichts sagt und nichts tut und ihn auf dem Rasierpinsel herumspielen lässt und nur raucht und die Tabakkrümel an der Lippe hängen lässt und nur leer schaut und unverständlich und komisch.
    Erst viele Jahre später, als sie einmal im Krankenhaus lag und ihm bei der Suche nach Unterlagen für die Krankenkasse ihr Tagebuch in die Hände fiel, hat er erfahren, was sie in diesem Moment bewegte.
    Die Verwandten, bei denen die Mutter hier auf Gut Sezkow für kurze Zeit Unterschlupf fand, hatten beschlossen, sich umzubringen, bevor die Russen kommen. Sie wollten die Mutter überreden, sich und auch ihren Sohn umzubringen, um dem zu entgehen, was nach der Kapitulation passieren würde. Die Mutter hat darüber nachgedacht, so steht es in ihrem Tagebuch. Sie hat alle Möglichkeiten erwogen. Sie wusste damals nicht, wohin. Und sie hat, als sie eine Zigarette nach der anderen rauchte, darüber nachgedacht, zuerst ihren Sohn und dann sich selbst umzubringen. Aber dann hat sie den Koffer gepackt und ist mit ihm losgezogen. Später haben sie erfahren, dass die Verwandten sich hier auf Gut Sezkow tatsächlich das Leben genommen haben. Der Vater hat zuerst seine Frau und danach seine Tochter erschossen. Die Tochter soll noch vor dem Vater weggelaufen sein, aber er hat sie trotzdem erschossen. Das fällt Rottmann in diesem Moment ein.

Oh Mensch, gib acht
    Ich möchte wetten, die nimmt Tabletten! Mit herausfordernder Stimme hat Norbert seinen Zeigefinger in Richtung Friederike ausgestreckt. Er, der Versicherungsangestellte, der soeben noch mit Bülow um die Hotelkosten gestritten hat, fläzt sich in einem Sessel nahe der Terrassentür, die Knie über eine Lehne geworfen, ungeniert, als wäre er hier zu Hause. Er will nun doch in Sezkow bleiben – nicht nur weil er sich nach der geglückten Einschläferung der Frau auf dem Flügel ebenfalls Hilfe von dem Zauberer erwartet, sondern auch, weil er zu viel getrunken hat. Der Alkohol reizt seinen ohnehin bissig gestimmten Geist zu Attacken. Immerhin kann er noch klar genug denken, um zu kapieren, dass er vor den Kollegen nicht das Gesicht verlieren darf. Der Straßenverkehrsordnung ist er nicht mehr gewachsen, diese Tatsache hat er noch klar erfasst. Was er intus hat, ist mehr als das Quantum, das ihm normalerweise als ›Zielwasser‹ dient.
    Friederike ignoriert den Kollegen Norbert. Sie hat sich aufs Sofa fallen lassen, ihr blasses Gesicht nimmt Farbe an, ihre Wangen sind gerötet. Die ganze Zeit hat sie getanzt. Mal alleine, ganz für sich, mal mit Peter Mulik. Aber trotz ihrer Versuche, sein Interesse zu wecken, bleibt er der distanzierte Kollege. Nichts gibt er von sich preis. Und verführen lässt er sich erst recht nicht, nicht einmal zu einem Wange-an-Wange-Tänzchen. Er bleibt der Bürohengst, der er wahrscheinlich schon immer gewesen ist, denkt Friederike.
    Wenn sie wüsste, was er der Moll von sich offenbart hat – sie könnte es nicht fassen. Aber sie weiß es nicht, sie ahnt nichts von seiner anderen Seite.
    Ich möchte wetten, sie nimmt Tabletten!
    Norbert wiederholt sich. Dass er ignoriert wird, ist er nicht gewöhnt. Auf alle Fälle will er Friederikes Aufmerksamkeit. Sein Kampfgeist ist geweckt. Wie schön die Kollegin ist, so erhitzt vom Tanzen, glühend wie ein Teenager! Ihre Lederjacke hat sie abgelegt, und ihre durchtrainierten Arme und hohen Schultern wirken so jung, so weiß und – so intellektuell!
    Mein letzter Wille – ich will ’ne Pille!, ruft er von neuem und schwenkt sein Glas in die

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