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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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schöne Frau, ich muss gestehn, das Wort ist fort, ich hab’s gesehn. Wir, die Schlaflosen, haben ganz besondere Fähigkeiten, wisst ihr das, Leute? Wir intelligenten Dementen. Ach, wie heißt noch mal das Wort, das ich der Schönen da sagen wollte? Dieser Rausch, dieser Zusammenprall wie schon gesagt, zwischen dem Photönchen und mir …
    Jetzt steigt er auch noch auf den Couchtisch und schiebt mit den Füßen die Kerzenständer und Gläser beiseite. Inzwischen hat er tatsächlich die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf sich gelenkt.
    Seien wir doch mal ehrlich! Wenn wir schlafen, spüren wir die verlorene Liebe nicht. Selig, selig, selig sind die Schlafenden! Aber der Tag ist schon an seinem Morgen angefault! Wo singt die Lerche noch den Sonnenaufgang ein? Wo ist die Lust, die Ewigkeit nur will? Ich will den Tod, den lieben, lieben Tod! Die tiefe, tiefe Ewigkeit, das ist’s! Kommt, Leute, kommt und lasst euch ein. Es lebe hoch das Gen ABCC9! Komm zu uns, liebes Schläfer-Gen, wo bleibst du denn, es wär so schön!
    Verdammt, wo ist der Zauberer?
    Da kommt er ja! Wie gerufen!
    In diesem Moment taucht er tatsächlich auf. Ein zweiter Gast hat sich von ihm in den Schlaf versenken lassen, oben in seinem Zimmer. Jetzt ist der Zauberer bereit, hier unten weiterzumachen. Miriam hat schon erkannt, was mit dem lockigen Versicherungsangestellten Norbert los ist, der ein bisschen durch den Wind zu sein scheint. Beherzt geht sie auf ihn zu, packt ihn beim Arm, hilft ihm vom Tisch herunter und bedeutet ihm, sich auf der großen Couch auszustrecken.
    Er folgt ihr auf wundersame Weise. Endlich hält er den Mund und schweigt. Der Zauberer streicht ihm über die Stirn und bittet die neugierig Umherstehenden, für den Daliegenden das Schlaflied zu singen. Aber allen ist es peinlich, in einem so kleinen Chor die unzulängliche, da ungeübte Stimme zu erheben, sodass nur ein dünnes Summen ertönt, das sogleich wieder verstummt. Da kommt die Klavierspielerin mit einem Wiegenlied zu Hilfe, und nur Miriam summt tapfer auf Geheiß, um den Freund nicht im Stich zu lassen. Wieder zeichnet er mit beschwörenden Bewegungen einen unsichtbaren Körper nach, eine Lufthülle, die den Probanden zu umgeben scheint, und seine Hände schweben ausdrucksvoll mit gespreizten Fingern über dem auf ein Ergebnis Wartenden. Der hat die Augen geschlossen und den Mund zu einem erwartungsvollen Lächeln geformt. So geht es eine ganze Weile. Die Zuschauer schauen einander an, mit fragenden Brauen. Zwei oder drei verlassen die Szene. Der Zauberer flüstert dem Probanden etwas zu und hält inne. Für eine Weile schließt er selbst die Augen, und es sieht aus, als wolle er sich noch mehr in die andere Person hineinversenken. Dann richtet er sich auf, streckt sich, nimmt tief Luft, streicht mit seiner schönen Hand über seine schwarze Kappe, um dann umso konzentrierter fortzufahren. Wieder die beschwörenden Bewegungen, die Stimme Miriams, die bedeutungsvollen Blicke unter hochgezogenen Brauen.
    Aber der Zauber will nicht gelingen. So einschmeichelnd die Klaviermelodie auch tönt, so aufmerksam die Augenpaare der Dabeistehenden auch mithelfen und mitbeschwören, der Schlaf Suchende findet nicht, was er sucht. Er windet sich, zuckt mit dem Mund, über sein Gesicht huschen Bewegungen und Grimassen, er spielt mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln. Aber er ist die Unruhe selbst. Kurz, das Wunder findet nicht statt. Der Zauberer mag sich noch so anstrengen, er mag einen noch so geheimnisvollen Blick aufsetzen, noch so magisch wirkende Gesten vollführen, es will ihm nicht gelingen. Dennoch gibt er nicht auf, sondern macht weiter, bald ohne Zuschauer.
    Wer hätte gedacht, dass der soeben noch so cholerisch daherschwadronierende Norbert eine solche Geduld aufbringen würde! Er hält durch, er will schlafen, er strengt sich an, er dirigiert seine ganze Energie in diesen einzigen Willen, in den Willen zum Schlaf. Ja, seine Haut fängt an zu vibrieren, eine feine Glut hat sich darüber ausgebreitet, eine wundersame Strahlung. Norbert ist ganz Erwartung, er wiegt sich im Takt des Lieds, atmet tief ein und aus, er ist ganz auf Empfang eingestellt, auf Schlafempfang. Aber er ist hellwach.
    Es ist schon reichlich Zeit vergangen, seit der Zauberer mit seinen Bemühungen angefangen hat. Er und sein Proband wollen nicht aufgeben. Nein, sie machen weiter. Selbst

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