Die Schlaflosen
Hintern verabreicht, und mit diesem beschämenden Gedanken ist er beschäftigt, als er auf Friederike, Mulik und die anderen stöÃt.
Die Debatte, die hier im Gange ist, kommt ihm als Ablenkung gerade recht. Er hört eine Weile zu, bevor er sich auf dem Sofa niederlässt. Sein übertrieben spöttisches Auflachen lässt den Verdacht aufkommen, auch er habe über den Durst getrunken. Obwohl â wer kann hier schon auseinanderhalten, wovon etwas zu viel ist? Zu viel Schlaflosigkeit, zu viel Hoffnung, zu viel Schwäche, zu viel Zeit, zu viel Alkohol ⦠alles hat dasselbe zur Folge â den Zweifel, den verdammten, schrecklichen Zweifel an sich selbst.
Warum wir nicht schlafen können? Bricht es aus Rottmann heraus, in einem Ton, als wisse er Bescheid, und zwar er allein.
Ich sage Ihnen eins ⦠wir können nicht schlafen, weil wir alle nicht der sind, der wir sein wollen ⦠wir sind alle Loser, Freunde! Schlaf-loser ⦠Ja, unsere Zeit! Meine Dame, unsere Zeit ist eine Zeit der Loser ⦠früher war mal die Zeit der Genies, und es gab auch schon die Zeit der Kämpfer und die Zeit der schönen Tuberkulösen ⦠Ja, wie steht es geschrieben? Alles hat seine Zeit! ⦠Und wahrlich ich sage Euch, heute ist die Zeit der Loser ⦠all derer, die nicht sie selbst sein wollen, die längst aus sich herausgefallen sind ⦠heute ist die Zeit derer, die sich von ihren Schatten getrennt haben, die Schatten sind in Amerika oder am Nordpol oder sonst einem Ende der Welt, und der Körper ist hier, und wir haben alle das Gefühl, er gehöre nicht zu uns ⦠seien wir doch ehrlich, Freunde! ⦠das ist doch alles Quatsch, diese Sache mit der Beschleunigung und der Entschleunigung und dem ganzen anstrengenden Zeug und den Algorhythmen ⦠etwas an unserem Bewusstsein ist kaputt â das milliardenstimmige Neuronengeplapper funktioniert nicht mehr, es hat falsche Töne angenommen â¦
Er nimmt einen Schluck, reckt sich, den Arm mit der Flasche in der Hand hochgestreckt ⦠er lallt noch etwas, aber keiner kann ihn mehr verstehen.
Friederike reicht ihm eine Tasse Kaffee. Trinken Sie, fordert sie ihn auf, das wird Ihnen guttun.
Aber Rottmann nimmt lieber noch ein paar Züge aus der Flasche.
Trinken wir auf das Leben, Freunde! In diesem Haus wurde mir das Leben gerettet. Meine Mutter hat mir das Leben gerettet. Jemand wollte mich umbringen, aber meine Mutter hat mich gerettet. Hahaha!
Und wer hat Sie umbringen wollen?
Friederike ist ganz erschrocken.
Meine Mutter!
Ihre Mutter? Ich dachte, sie hat sie gerettet?
Eigentlich hat sie mich umbringen wollen. Und sich selbst auch. Aber dann hat sie mich vor sich selbst gerettet. Hahaha! Was für eine göttliche Mutter! Die ihren Sohn vor sich selber rettet!
Friederike wirft vielsagende Blicke zu Mulik hinüber. Rottmann ist übel. Er torkelt zwischen den Sesseln und Tischen hindurch zur Terrassentür und stürzt hinaus. Ihm ist so schlecht wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Er lässt sich vor einem Blumenkübel nieder und übergibt sich. Kniend, die Arme um den Topf geschlungen, erbricht er alles, was er an diesem Abend zu sich genommen hat. Ihm ist hundeelend. Er will jetzt nichts mehr hören, niemand soll ihm helfen, nicht einmal die herbeigeeilte Miriam. Schon gar nicht sie! Kein Mensch!
Während
Während Friederike den Blick über Muliks Schulter durchs Fenster nach drauÃen richtet, wo sie den betrunkenen Rottmann vermutet, und dabei ihre These weiterspinnt, es seien die Zumutungen von auÃen, die uns schlaflos machen, die Zumutungen der Gesellschaft, der Globalisierung, der Medien, der nanogeschwinden Maschinen, während die hinzutretende Moll eine Zigarette zwischen ihren langen Fingern jongliert und in die Runde hinein fragt, ob jemand Feuer habe, und ausruft, Wir sind nicht krank!, während sie mit einem Blick zur Tür die junge Frau wiedererkennt, der sie eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg verkauft hat, und die jetzt gegen sie prozessiert (ach, du liebe Zeit, Moll, das hat grade noch gefehlt), während der Zauberer sich erhebt und den erfolglosen Probanden auf der Couch zurücklässt, weil er Miriam finden will, um sie endlich ein paar Minuten lang für sich zu haben, irgendwo im Dunkel des Parks, während im Eingang zum blauen Salon zwischen den breit geöffneten Türflügeln die soeben feierlich in den Schlaf gezauberte Frau
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