Die Schlaflosen
Dezibelstärke umgebe ⦠weil sie diese Geräusche normal fänden ⦠in gewissem Sinne gehe es ihr selbst ähnlich. Sie sei schon als Jugendliche mit einem solchen Lärm aufgewachsen, den man im Grunde nur höllisch nennen könne â¦
Ach, haben Sie auch so laut gewohnt?
Nein, aber ich habe als Teeny meine Nächte in Diskotheken verbracht, ⦠seit damals sei der Lärm in ihr, für immer ⦠dieses Gefühl habe sie, da könne sie nichts machen ⦠der Lärm habe sich ihr eingegraben, wie Sonnenstrahlen, die die Haut nie wieder vergisst, so komme ihr das mit dem Lärm vor, den auch das innere Ohr nie wieder vergisst â¦
Und warum machen Sie dann eine Psychoanalyse? Will Mulik wissen. Haben Sie doch noch Hoffnung, dass der Lärm wieder aus Ihnen herausgezaubert wird?
Na ja, sie zögert. Und nach einer Denkpause sagt sie, sie denke trotz alledem, dass es diese Störungen unserer Zeit gebe, zugleich aber auch könne es sein, dass jeder für sich selbst noch besondere Gründe habe. Sie etwa knabbere grade daran, dass ihre Mutter ihr immer erlaubt habe, in diese Diskos zu gehen, anstatt es ihr zu verbieten â was, wie der Analytiker sage, das richtige Zeichen mütterlicher Liebe gewesen wäre.
Friederike versinkt in die Erinnerung an diese Stunde auf der Couch und daran, wie sie dem Analytiker die Frage stellte: Meinen Sie, meine Mutter hat mich nicht geliebt?
Auf ihre Weise vielleicht schon, aber nicht wirklich so, wie ein Kind es braucht, hat er geantwortet.
Daran denkt sie oft, wenn sie in der Nacht wach wird und nicht mehr einschlafen kann.
Friederike gestikuliert beim Sprechen mit ihrer weiÃen Hand, Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger sind vorgestreckt, die beiden anderen in die Handfläche gelegt. Das sieht aus, als präzisiere sie ihre Aussagen mit einer Art stechendem Zugriff.
Glauben Sie wirklich, Ihre Mutter hätte Sie daran hindern können, in die Disko zu gehen? Wenn ich da an meinen Sohn denke â¦
In Muliks Stimme schwingt ein leiser Vorwurf mit.
Die Jahre, als sein eigener Sohn nachts nicht nach Hause gekommen ist, waren für ihn die schlimmste Zeit seines Lebens. Immer hatte er Angst um ihn. Oft wartete er bis zum frühen Morgen, bis er das Geräusch des Türschlosses hörte, erst dann konnte er einschlafen. Und immer träumte er von dem Autounfall. Je mehr er Andi Vorhaltungen machte, desto trotziger war der und beharrte auf seinem Recht, so lange fortzubleiben, wie er wolle. Einmal hatte er einen Fahrradunfall auf dem Nachhauseweg, und Mulik bekam einen Anruf aus dem Krankenhaus. Seitdem war es noch schlimmer mit der Angst um ihn. Mehrmals war er Andi in der Nacht heimlich gefolgt. Und einmal war er selbst in eine solche Disko gegangen, hatte sich an die Bar gesetzt und ein paar Bier getrunken. Vielleicht drei Stunden hatte er es ausgehalten dort, und am nächsten Tag war sein linkes Ohr taub. Es dauerte Tage, bis er wieder richtig hören konnte. Und jetzt, da Andi plötzlich von verstörenden Zuständen geplagt ist, macht Mulik sich Vorwürfe und sucht einen Zusammenhang zwischen damals und heute herzustellen.
Unser normales Leben geht eben vollkommen gegen unsere Natur, ich meine gegen den natürlichen Biorhythmus, meint jemand.
Oha, das hört sich ja nach Tiefgang an, sagt Rottmann, der gerade hinzutritt. Er hat seinen Emporensitz verlassen, vergeblich nach Margot Ausschau gehalten, eine ganze Menge Rotwein getrunken, von den Pasteten gekostet und essend und trinkend versucht, sich des Erinnerungsschubs von vorhin zu erwehren. Sozusagen hat er mit Wohlschmeckendem den üblen Geschmack der Vergangenheit vertrieben. Er zündet sich eine Zigarette an und sucht nach einem vertrauenerweckenden Gesicht.
Die ganze Zeit war ihm die Frage im Kopf herumgegangen, in welchem Raum sich die Küche damals befand, in der seine Mutter ihre düsteren Gedanken wälzte. Jedenfalls zu ebener Erde, ja vielleicht da, wo heute die Restaurantküche ist, in die er vergeblich einen Blick zu werfen versuchte. Miriam bat ihn mit tausend Entschuldigungen, seine Neugier auf morgen zu verschieben, weil im Moment das ganz groÃe Chaos in der Küche herrsche und jeder sich anstrengen müsse, nicht über sich selbst zu stolpern.
Er wurde sanft hinauskomplimentiert und kam sich dabei vor wie ein Trottel. Er dachte sogar einen Moment lang, die Bülow hätte ihm dabei einen Klaps auf den
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