Die Schlaflosen
Miriam hat sich verabschiedet, sie muss sich um anderes kümmern.
Der Zauberer hat längst begriffen, dass seine Kunst diesmal nicht wirkt, dass die Luft raus ist. Er gibt nur nicht auf, weil er nicht weiÃ, wie er dem Ritual ein Ende setzen soll, ohne das Gesicht zu verlieren. Er weiÃ, dass seine Magie erloschen ist. Es sind nur noch äuÃere Bewegungen, die er vollführt, und wer genauer hinsieht, merkt, dass seine Hände fahrig werden, ziellos, die nötige Expression verloren haben. Da, in diesem Moment schiebt Norbert den Arm des Zauberers von sich, öffnet die Augen, blickt um sich und erhebt sich.
Nun sitzt er da und schüttelt den Kopf. Das Haar hängt ihm ins Gesicht, und er sieht so müde aus, wie er es seit langem auch ist. Er könnte sterben vor Müdigkeit. Seine nach unten gefallenen Mundwinkel und sein gekräuseltes Kinn künden eine Eruption an, ein kindliches Plärren. Ach! Unter den in die Stirn fallenden schon leicht grauen Locken kommt es hervor.
Der Zauberer nimmt seine Kappe vom Kopf und setzt sich neben den Unglücklichen. Rücken Sie mal zur Seite, bittet er, fährt sich durchs Haar und stützt ratlos die Ellbogen auf die Knie.
Da hat wohl meine Kunst versagt.
Ich wusste es â
Norbert lässt den Kopf hängen, sein Gesicht ist jetzt ganz hinter den Locken verschwunden.
Der Zauberer klopft ihm auf den Rücken und schlägt ihm vor, sich mit einem Glas Rotwein zu trösten. Man kann nichts zwingen, schon gar nicht das Einschlafen.
Wer weiÃ
Wer weiÃ, sagt Peter Mulik, es scheint eine Volkskrankheit zu sein, an der wir leiden. Vielleicht ist es die Unruhe unserer Zeit, die in uns gefahren ist? Die unseren Biorhythmus durcheinandergebracht hat? Ich habe mal einen Blick in das statistische Archiv unserer Versicherungsgesellschaft geworfen â da kann man es nachlesen. Vor vierzig Jahren ist kaum jemand wegen Schlaflosigkeit zum Arzt gegangen, heute fast jeder Zweite. Wir können nicht so weitermachen, als habe die ganze Sache nichts mit dem zu tun, was um uns herum passiert.
Friederike nickt. Sie hat sich der kleinen Runde zugesellt, hockt mit angezogenen Beinen im Sessel und drückt ihr schönes Kinn aufs Knie.
In unserer Welt muss man doch krank sein ⦠wer nicht krank ist, ist der eigentlich Kranke ⦠sagt sie.
Wie sie das meine, wird gefragt.
Vielleicht ist es ein ganz gesundes Abwehrsymptom, dass wir nicht schlafen können?
Meinen Sie? Ist das nicht eine etwas rosige Deutung unserer Qual?
Nein â unser Körper wehrt sich, und es ist sehr einleuchtend, dass er sich wehrt ⦠es hat was mit der Chronobiologie zu tun ⦠mit der Beschleunigung der Dinge, mit diesen wahnsinnigen Anforderungen an unser Wahrnehmungssystem, mit diesem Vielzuviel, mit diesen Millionen von Bildern, den Billionen von Eindrücken, die uns dauernd überschwemmen â¦
Sie meinen also, wir sind im Gegensatz zu anderen, die noch schlafen können, eher die Gesunden?
Ja, könnte das nicht sein?
Sie meinen also, die anderen, die Gesunden, sind krank?
Ja, krank vor Anpassung und Abstumpfung ⦠sie sind, na ja, ich möchte nicht sagen wie Ratten, aber so was Ãhnliches. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, wenn man sich nicht an alles gewöhnt â¦
Sie meinen, es wäre gut, dass unsere Nerven sagen, âºHallo, hier ist Schluss, hier ist die Grenze?â¹.
Ja, genau das meine ich â
Sind Sie in der Unfallabteilung tätig? Haben Sie mit diesen schrecklichen Bildern in Ihrer Arbeit zu tun?
Nein, das sei es nicht. Es seien nicht die Fotografien von Unfallopfern und Fallberichten, es seien nicht die schrecklichen Briefe, die ihr die Versicherungsnehmer schreiben, die Lebensdramen, die sie mitbekomme, in die sie selbst mit hineingezogen und für die sie manchmal sogar verantwortlich gemacht werde ⦠damit habe ihre Schlafstörung vielleicht manchmal zu tun, das wolle sie nicht abstreiten, aber was sie meine, sei viel allgemeiner â¦
Es hat auch mit dem Lärm zu tun, mit dem Lärm, der heute in unserer Welt ist. Das habe sie neulich gelesen. Es gebe eine über viele Jahre und in vielen Ländern durchgeführte Studie, die beweise, dass viele Menschen heute nicht mehr den Lärm um sich herum als Lärm empfinden ⦠zum Beispiel wohnten viele an lauten AutostraÃen und spürten gar nicht mehr, dass sie Tag und Nacht ein Geräuschpegel von unerhörter
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