Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
wollte.
»Und was meine Anstrengungen betrifft, so sind sie noch lange nicht erschöpft. Ich will mit Pontius Pilatus sprechen, dem neuen römischen Prokurator. Er soll mir irgendwie helfen. Darum bin ich hier, aus keinem anderen Grund, und schon gar nicht, um mit dir und deinem ganzen beklemmenden Leben Hand in Hand spazieren zu gehen.«
Berenike schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Auf der Stelle bereute Salome, was sie gesagt hatte, zumal es nicht der Wahrheit entsprach – jedenfalls nicht ganz. Tatsächlich empfand sie diesen Hof und das Leben, das Berenike führte, bedrückend. Und Pontius Pilatus war der wichtigste Grund ihrer Anwesenheit. Nichtsdestotrotz freute sie sich, ihre liebste Spielgefährtin von einst wiederzusehen, die Einzige, die stets eine Freundin für sie gewesen war.
Sie legte Berenike entschuldigend die Hand auf die Schulter, doch in dem Moment, als sie sie berührte, rannte Berenike davon. Salome lief hinter ihr her. »Berenike! Warte doch! Es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint.«
Die Verfolgungsjagd ging über die vielen Wege und Seitenwege des Gartens, über Rasenflächen, um Zypressen herum und durch Dickicht. Doch Salome geriet schnell außer Atem und musste schließlich entkräftet aufgeben. Keuchend lehnte sie sich gegen einen der großen, ovalen Steine, die hier überall herumlagen.
Von allen Schwächen der Kindheit war ihr nur noch die schnelle Erschöpfung geblieben. Ihre Ausschläge waren vor einigen Jahren verschwunden, ebenso die Blässe und die geröteten Augen. Heute schimmerte ihre Haut zartbraun und gesund, unterstützt von einer Mischung verschiedener Palmöle, die Herodias ihr zusammenstellte und fast täglich auftrug. Die Haare waren weitaus kräftiger geworden, doch Salome behielt die Frisur, die sie am Tag nach Timons Eintreffen in Ashdod von ihrer Mutter hatte machen lassen, unbeirrt bei. Sie flocht das Haar jeden Morgen über den Ohren, strich das Stirnhaar zurück und hielt es mit einer Perlenkette zusammen. Kein Husten peinigte sie mehr, und ihre hektischen Blicke und Bewegungen kontrollierte sie eisern, denn sie fand sie einer Stadtfürstin unangemessen.
Gegen die innere Unruhe konnte sie allerdings nichts tun. Sie konnte sich nie länger als eine Stunde auf eine bestimmte Tätigkeit konzentrieren, gleichgültig, ob es sich um Lernen, Lesen oder Diskutieren handelte. Dann gingen ihr andere Gedanken durch den Kopf, lenkten sie ab, führten sie zu anderen Themen und Orten. Sie musste dann fast zwanghaft ihre Tätigkeit unterbrechen, um irgendetwas nachzuschlagen, einen alten Bericht einzusehen oder einen ganz bestimmten Brief zu schreiben. Manchmal passierte ihr das mitten in der Nacht, dann entzündete sie eine Öllampe, ging zu ihrem Schreibtisch oder lief einfach im gyneikon auf und ab, oft stundenlang. Eine Weile hatte sie geglaubt, dass Timon der Grund dafür sei, und ganz bestimmt spielte er dabei eine gewisse Rolle. Wenn sie wüsste, dass er sich nichts aus ihr machte, ja sogar, wenn er tot wäre, würde alles ein wenig leichter für sie sein, auch wenn dieser Gedanke furchtbar war. Die Ungewissheit jedoch war bohrend und unerträglich, sie hasste sie.
Timon war der wichtigste, nicht jedoch der einzige Grund für ihre Ruhelosigkeit. Ihr Drang nach Verantwortung, nach einer wirklichen Aufgabe, wurde mit jedem Tag stärker, sogar hier am See Genezareth, fern von Ashdod, und sogar jetzt, wo sie noch immer nach Atem rang.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte um sich, konnte aber weder links zwischen den Büschen noch rechts, wo Berenike schluchzend auf dem gewundenen Seitenweg verschwunden war, jemanden entdecken. Kaum zehn Schritte vor ihr erhob sich ein Teil des neu errichteten Palastes, dessen weiße Fassade in den Strahlen der Sonne so hell leuchtete, dass Salome schützend die Hand über die Augen halten musste. Sie sah an der Wand hoch und entdeckte auf einer mit Säulen geschmückten Balustrade eine Frau. Sie war noch keine dreißig Jahre alt, wunderbar schön, schlank und hoch gewachsen. Ihre nussbraune Hautfarbe wies sie unverkennbar als Nabatäerin aus, eine Angehörige des heidnischen Nachbarvolks, das in den Wüsten und Bergen Arabiens lebte und selbst den Römern zu unbedeutend war, um ihren politischen Einfluss dorthin auszudehnen. Die Gestalt der Frau war fremdartig. Ihre bunten Kleider waren mit den Tuniken, die in Judäa und Kleinasien getragen wurden, nicht zu vergleichen, sie waren weit
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