Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
hatten sie dennoch aus der Puste gebracht. Sie sollte die Arme wie ein Vogel schwenken, hoch und runter, hoch und runter – und lag nach einer halben Stunde japsend am Boden, so als sei sie soeben die weite Strecke von Gallien herübergeflogen.
»Das macht nichts«, kommentierte Haritha die schnelle Erschöpfung. »Morgen machst du ein paar Flügelschläge mehr.«
So kam es, und mittlerweile machte sie tatsächlich so viele Flügelschläge wie ein Zugvogel aus Gallien. Sie konnte stundenlang flattern und wurde trotzdem nicht müde. Sie konzentrierte sich darauf, die Arme geschmeidig zu bewegen und jede Künstlichkeit und Anstrengung aus der Bewegung zu verbannen. Doch sie stand erst am Anfang.
»Du wirst lernen, wie eine Göttin zu tanzen«, sagte ihr die Nabatäerin jeden Tag, und fügte stets hinzu: »Sprich mit niemandem darüber, hörst du? Vor allem nicht mit Antipas. Schwöre es.«
Salome fand diese Angst übertrieben. Gewiss, die Pharisäer waren strenge Sittenwächter, und es war besser, sie wussten nicht so genau, was in Harithas Gemächern vor sich ging, aber da Antipas selbst sich an ihrem Treiben erfreute, bestand keine Gefahr, dass man ihr den Tanz, der ihr so viel bedeutete, verbot. Trotzdem hielt Salome sich an die Mahnung – vorerst.
Pilatus blickte in die sengende Sonne, wischte sich die kleinen Schweißperlen von der hohen Stirn und nahm den Spaziergang wieder auf. »Ich merke schon, es geht dir nicht um die Küstenstraße. Darüber bin ich sehr froh, denn das Letzte, worüber ich reden will, ist etwas, das an Arbeit erinnert. Und eine Küstenstraße zu bauen, ist Arbeit. Zwar nicht für mich, sondern nur für jene, die …«
Er plauderte und plauderte fast ohne Unterlass, und es dauerte noch eine Weile, bis Salome mit ihrem Anliegen zu ihm durchdrang.
Sie berichtete ihm von Timon, vom Attentatsversuch, von der Gefangennahme und der Freilassung. Sie ließ nichts aus, jede Kleinigkeit konnte wichtig sein. Als sie fertig war und ihn um seine Hilfe bei der Suche nach Timon gebeten hatte, waren sie auf dem Gipfel des Hügels angelangt.
Sie blickten kurz über Tiberias, das durch den Hügel vom Palast getrennt war. Die weißen Häuser, Plätze und Straßen strahlten jedoch derart unangenehm hell in der Sonne, dass sie sich schnell wieder abwandten und in die andere Richtung zum See hinuntersahen. Dessen sanftes Blau war eine Wohltat für die Augen.
»Wahrhaft tragisch«, war das Erste, was Pilatus einfiel. »Bühnenreif geradezu. Jemand sollte ein Drama darüber schreiben. Ich bin sicher, irgendwann wird es dazu kommen.«
»Kannst du mir helfen?«, wollte Salome wissen.
»Oh, ich verfüge über keine dichterischen Fähigkeiten. Meine Mutter meinte zwar früher, dass ich …«
»Ich meine die Suche nach Timon«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Kannst du mir dabei helfen?«
»Oh«, rief er gedehnt und schien sich einen Moment lang tatsächlich anzustrengen. »Ja, es müsste möglich sein, ihn aufzuspüren.«
»Wirklich?«
Er nickte. »Nikolaos, der Vater des Mannes, nach dem du suchst, besaß nicht das römische Bürgerrecht, das, wie du sicher weißt, im Allgemeinen nur italische Familien und die in Kolonien angesiedelten Kriegsveteranen erhalten. Somit dürfte auch dein junger Freund nicht das Bürgerrecht besitzen, sondern als einfacher Provinziale gelten.«
»Und wie kann uns dieser Umstand nützen?«
»Den Göttern sei Dank für die Steuern«, antwortete Pilatus. »Die meisten Menschen beklagen sich ja darüber, dir kommen sie nun zugute. Als Provinziale muss Timon Steuern bezahlen, im Gegensatz zu Inhabern des Bürgerrechts. Egal, wo er sich aufhält, ob in Judäa, Ägypten, Spanien oder sonstwo – er ist unter Garantie in eine Steuerliste eingetragen, denn von irgendetwas muss er ja leben.«
»Und wenn er sich den Steuern entzieht?«
»Meine Verehrte, den Steuern kann man sich nicht entziehen. Die Steuerjäger sind wie Ameisen: Jede trägt nur eine Winzigkeit, doch zusammen zersetzen sie alles, was ihnen zwischen die Zangen kommt. Sie kommen überallhin, und wo sie waren, bleiben nur Gerippe übrig. Es ist im Imperium leichter, mit einem Mord durchzukommen als mit hinterzogenen Steuern.«
»Was willst du also tun?«
»Ich werde eine Anfrage an alle Steuerbeamten, die quaestores , schicken. Dadurch erfahren wir, wo er sich aufhält.«
»Gut«, sagte Salome hoffnungsvoll. Sie fand Pilatus ziemlich affektiert, doch auf eine amüsante Weise. »Wie lange wird es dauern, bis du
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