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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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Timon.
    »Offiziell existierst du seit heute nicht mehr, du bist ein Nichts, und ein Nichts hat keine Rechte.«
    »Ich …«
    »Abführen«, unterbrach Coponius unbeeindruckt.
    »Das wirst du mir büßen«, rief Timon, doch der Offizier lachte nur.
    »Wenn du fünf Jahre überlebst, was ich bezweifle, wirst du um fünfzig Jahre gealtert sein, und wenn du zehn Jahre überlebst, bist du eigentlich schon tot.«
    Timon war nicht bereit, dieses widerrechtlich gefällte Urteil anzuerkennen. Er glaubte, dass er irgendwie gerettet würde, dass Salome oder ein Beamter dieses Unrecht erkennen und ihn wieder auslösen würden. Er wollte eine Botschaft zu Salome schicken und sprach deswegen mit den Soldaten, die ihn auf eine Galeere brachten, mit einem Offizier auf der Galeere, mit dem Beamten, der sie in Ephesos zählte und auf die Lager des Hinterlandes verteilte, mit dem Kommandanten des Straflagers … Aber es war, als habe er keine Stimme mehr, als zähle das, was er sagte, nicht mehr. Niemand hörte ihm zu, niemand fragte nach, die wenigsten sahen ihn überhaupt an. So wie Coponius gesagt hatte: Er war ein Nichts, ein Verbrecher, und die Worte eines Verbrechers galten ebenso wenig wie die eines Sklaven.
    Auch die Arbeit im Steinbruch und die Behandlung durch die Wachmannschaften glich denen von Sklaven. Der Abbau von Marmor galt als eine der anstrengendsten und gefährlichsten Strafen überhaupt. Das wertvolle Gestein, das überall im Reich für den Bau von Tempeln, Palästen und Foren gebraucht wurde, löste sich nicht einfach aus dem Fels. Nur mit größter Mühe und Kraft, mit schweren, spitzen Werkzeugen und viel Geschick ließ der Marmor sich genau in der Größe herausbrechen, die gerade benötigt wurde. Die Arbeit begann nach Sonnenaufgang und endete mit der hereinbrechenden Dunkelheit. Im Winter musste man ohne zusätzliche Kleidung arbeiten, so dass die Muskeln zuckten. Das Gestein war so hart, dass man doppelt so lange brauchte, um einen Quader zu erhalten. Dann wurden die ohnehin knapp bemessenen Pausen gekürzt und die Arbeitszeit in die Dunkelheit ausgedehnt. Wenn Stürme tobten oder schwache Erdbeben den Steinbruch erzittern ließen, brachen Teile der Felswand ab und begruben einige der Gefangenen unter sich, die wegen der Fußfesseln nicht wegrennen konnten. Und im Sommer verbrannte die Sonne den Arbeitern die Haut. Jeden Tag brachen einer oder zwei von ihnen zusammen.
    Eigentlich war Timon für diese Arbeit zu leichtgewichtig und zu schwach. Die meisten der anderen Gefangenen in den Steinbrüchen waren kräftige, bullige Männer mit Beinen wie Baumstämme. Doch man brauchte auch Männer, die das Gestein der hochgelegenen Schichten abschlugen, und die durften nicht schwergewichtig sein. Jeden Morgen wurde Timon an ein Seil gebunden und vom oberen Rand des Steinbruchs an der Felswand entlang nach unten abgelassen. Zwei der kräftigeren Männer bedienten eine Seilwinde und regulierten auf Timons Rufe hin die Höhe. Einerseits war diese Arbeit leichter, als unten stundenlang mit den schweren Eisenhämmern die Steine zu zerschlagen oder oben die Seilwinde zu bedienen, andererseits war sie so gefährlich wie keine andere. Ein gerissenes Seil hatte schon so manchen der pulli , der Küken, wie die leichten Arbeiter genannt wurden, in den Tod stürzen lassen. »Da ist wieder ein Küken aus dem Nest gefallen«, lautete der lapidare Kommentar der Wachmänner, bevor sie Anweisung gaben, den zerschmetterten Leichnam in bereits geschaufelte Gruben am Rand des Steinbruchs zu werfen.
    Es kam auch vor, dass einer der Männer an der Seilwinde schwächelte, und wenn der andere den Kräfteverlust nicht auffangen konnte, musste er die Winde loslassen – das Ergebnis war das Gleiche wie bei den gerissenen Seilen.
    Timons Leben hing also jeden Tag von Umständen ab, die er nicht beeinflussen konnte. Wenn irgendwo im Imperium ein Seildreher einen schlechten Tag hatte, wenn ein scharfer Stein den Flachs zerschnitt, wenn die Arbeiter in der Sonne zusammenbrachen oder ihnen im Winter die Hände erfroren, wenn eine Bö ihnen Staub in die Augen blies, wenn ein Skorpion sie erschreckte, so dass sie die Winde losließen … Der Tod der pulli kannte viele Ursachen. Jeder Moment konnte der letzte sein.
    Die Angst davor konnte Timon jedoch meistens verdrängen. Mit den Gedanken an Salome war das anders. Er hatte sie in jeder ruhigen Minute vor Augen, er roch ihren Duft inmitten des Staubes, hörte ihre Stimme zwischen dem ewigen Rasseln

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