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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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der Ketten, spürte vor dem Einschlafen ihre Hände, die ihm über die Narbe von der Brust zum Bauchnabel strichen. Dass er ihr nie seine Empfindungen gestanden hatte und auch die Vorstellung, sie könnte ihn vergessen haben und längst mit einem anderen verheiratet sein, wühlte ihn innerlich so auf, dass er gelegentlich tagelang keinen Hunger verspürte, obwohl die Rationen knapp bemessen waren. Eifersucht war nicht die richtige Beschreibung für das, was er fühlte. Das Schicksal hatte ihm damals eine wunderbare Gelegenheit gegeben, ein erfülltes Leben zu führen, verbunden mit einer Frau, die alles hatte, was ihn faszinierte, und die ihn vor allem ebenso liebte wie er sie. Und was hatte er daraus gemacht? Die Schuld am verpassten Glück und die Unmöglichkeit, daran etwas zu ändern: das machte ihm die Tage hier mehr zur Qual als die heiße Sonne. Er verfluchte die Steine und verspürte zeitweilig den Wunsch, irgendjemanden zu töten, obwohl er wusste, wie unsinnig das war.
    Doch so seltsam es klang: Die Schuld und die Liebe, die ihm zeitweise den Verstand nahmen, gaben ihm auch die Kraft, hier zu überleben, und damit meinte er, wirklich zu überleben. So viele hier existierten nur noch, sie lebten nicht mehr. Sie zerhackten Steine, aßen, zerhackten Steine, schliefen, zerhackten am nächsten Tag wieder Steine … Ihre Gedanken drehten sich nur noch um Steine, Essen und Schlaf. Deswegen auch gab es kaum Gespräche unter den Arbeitern, nicht einmal über Frauen redeten sie. »Und wenn du zehn Jahre überstehst, bist du eigentlich schon tot«, hatte Coponius gesagt. Die meisten hier waren tot. Doch das Geheimnis des Überlebens war, zu fühlen, egal, was: Wut, Selbsthass, Schuld, Liebe, Leidenschaft. Salome half ihm, diese Prüfung zu bestehen, und er lebte nur für den Tag, an dem er sie wiedersehen und alles gutmachen konnte – und für den Tag, an dem er Coponius und seine Mitverschwörer zur Rechenschaft ziehen würde.
    Ein Trommelwirbel dröhnte über den weitläufigen Steinbruch. Die Männer an der Winde zogen Timon und die anderen pulli nach oben, wo die Wachmannschaften bereits an einem Kessel warteten, den sie schon seit Jahren für die Essensausgabe benutzten. Deshalb schmeckte alles nach rostigem Eisen. Heute dampfte eine Bohnensuppe in dem Kessel.
    »Diese Römer«, sagte Gordian Grimassen schneidend zu Timon, als sie in einer Reihe vor dem Kessel standen. »So ein heißer Tag, und sie geben eine kochende Suppe aus. Ich werde noch mehr schwitzen.«
    Gordian war der einzige Freund, den Timon im Steinbruch hatte, aber die beiden fanden nur wenig Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Die Mittagspause war kurz und die Erschöpfung groß. Am Abend schliefen alle schnell ein, um am nächsten Morgen mit den ersten Strahlen der Sonne wieder erholt zu sein. Auf Krankheiten oder Schwäche nahmen die Bewacher keine Rücksicht.
    »Warum wartest du nicht einfach, bis die Suppe in deiner Schale ein wenig abgekühlt ist, und isst sie dann?«
    Gordian kratzte sich am Kopf. »Oh – eine gute Idee.«
    Er war nicht der Hellste und als Sohn von Bauern von der oberen Donau so ziemlich in allem das Gegenteil von einem griechischen Gelehrtensohn, doch Timon mochte ihn. Gordian übte auf ihn eine seltsam beruhigende Wirkung aus, weil er absolut arglos und ohne jede Aggressivität war. Gordian war ein pullus wie er und ließ es sich nicht nehmen, alle Stunde zu Timon herüberzuwinken, wenn sie beide an ihren Seilen hingen.
    Sie saßen im dürftigen Schatten eines großen Gesteinsbrockens. Timon trank bereits seine Suppe aus der Holzschale und wischte mit dem Stückchen Brot die Reste aus, als Gordian noch immer in das Gebräu blies, um es schneller zu kühlen. Timon lächelte ihn von der Seite an.
    »Soll ich helfen?«, fragte er ihn.
    »Oh ja.«
    Timon blies nun ebenfalls in Gordians Suppe. Nach ein paar Atemzügen musste Timon über die komische Situation lachen. Gordian stimmte in das Lachen ein. Es waren Augenblicke wie dieser, die Timon für kurze Zeit aus dem ewigen Kreislauf des Zorns und der Selbstvorwürfe herausholten.
    Zwei der anderen Gefangenen traten an sie heran. Sie hatten gesehen, dass Gordian seine Suppe nicht aß, und hofften, eine zusätzliche Ration ergattern zu können.
    »Wenn du die Suppe nicht willst, gib sie uns.«
    »Ich will sie ja.«
    »Du isst sie aber nicht.«
    »Gleich esse ich sie.«
    Doch die beiden wollten nicht ergebnislos abziehen. Sie hatten sich bereits auf ein paar zusätzliche

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