Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
an lange vergangene Tage des Glücks, so als lägen sie noch vor dir. Der theriac erfüllt dir jeden Wunsch.«
Salome griff nach dem Kelch. Harithas Worte waren ebenso betörend wie der Duft des Sees, der vom Wind herbeigetragen wurde. Wer konnte ihr besseren Trost spenden? Zu wem konnte sie mit ihren Ängsten und Hoffnungen gehen? Berenike, Herodias, Theudion, sie alle verstanden weder ihre Sehnsucht nach Timon noch nach einem neuen Judäa.
Salome führte den Kelch an ihre Lippen, doch dann sah sie, wie Haritha leicht schwankte und nur noch mit Mühe den Rest ihres theriac trank. Diese Frau war nicht mehr Herrin über ihren Körper, und ihr Geist spiegelte ihr falsche Wahrheiten vor, wie die Wüste es manchmal mit den Reisenden der Karawanen tat. Im letzten Moment setzte Salome den Kelch wieder ab.
»Lieber nicht«, sagte sie.
Haritha riss sich vom Anblick des glitzernden Sees los und blickte sie an. In ihrem vernebelten Blick blitzte ein Anflug von Ärger auf. »Du glaubst, gegen sie kämpfen zu können, nicht wahr? Du meinst, weil du eine Stadtfürstin bist, vermagst du die Welt zu ändern. Wie kindlich du noch bist! Die gemeine, schmutzige, ungerechte Welt lässt sich nicht ändern, und die Verteidiger dieser Welt werden dich ohne Skrupel mit einem Handschlag hinwegfegen. Die wenigen Sehnsüchte, die sich in deinem Leben erfüllen werden, ertrinken in der Flut enttäuschter Hoffnungen. Du wirst zugrunde gehen, Salome, denn in der Tiefe deines Herzens genießt du es, fremd und ausgestoßen zu sein, ein bunter, flatternder Vogel zwischen Abertausenden von wandelnden Gebetbüchern. Aber solche Vögel werden entweder abgeschossen oder in Käfige gesperrt.« Haritha drückte ihr den Kelch an die Lippen »Trink, dann spürst du nichts mehr davon.«
Salome entzog sich ihrer Freundin. »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«
»Warte, Salome. Geh nicht.«
Harithas Stimme war plötzlich mild und bittend. Der Wind blähte ihren Schleier, und man konnte meinen, dass er Haritha im nächsten Augenblick mit sich forttrüge. Salome konnte durch die Dunkelheit ihr Gesicht nicht sehen, sie spürte jedoch, dass es gerade jetzt von Trauer und Sehnsucht gezeichnet war.
»Ich war zu hart«, gestand Haritha. »Ich habe eigentlich nicht dich beschimpft, sondern mich selbst.« Sie streckte die Hand aus. »Komm zurück.«
Salome zögerte keinen Augenblick. Sie ergriff Harithas Hand und blickte wieder mit ihr hinaus in die windige Nacht. Sie wusste, dass Haritha gleich etwas sagen würde, und schwieg.
»Als neunjähriges Mädchen«, begann die Nabatäerin leise, »wurde ich zur Priesterin der Göttin Atargatis ernannt. Fortan lebte ich im Tempel, der in das Gebirge gegraben ist, auf dem unsere Hauptstadt Petra steht. Keine der Priesterinnen war älter als sechzehn, alle stammten aus vornehmen Familien. Zu Ehren der Göttin tanzten wir in den Gewölben, tagein und tagaus, wir verbrannten Räucherwerk und trugen die herrlichsten Stoffe. Nur einmal im Jahr traten wir ans Licht, zum Feiertag der Atargatis , und tanzten vor dem Volk. Als Tochter des Königs wurde ich schon bald zur ersten Priesterin ernannt, und ich tanzte mehr denn je. Alles, was ich an Kraft in mir hatte, gab ich dem Tanz. Nach sieben Jahren in der Abgeschiedenheit und beruhigenden Stille des Berges war ich zu alt für die Göttin. Man holte mich von einer Stunde auf die andere von dort weg.
Mein Vater war in der Zwischenzeit alt und schwach geworden, mein älterer Bruder war tot, der jüngere noch ein kleiner Knabe. Die Priester unseres obersten Gottes Dhu ash-Shara hatten das Sagen, und sie verwalteten das Land schlecht. Als ich mich einmischte und die übelsten Missstände bekämpfte, teilte man mir mit, dass ich als Braut eines jüdischen Prinzen vorgesehen sei, ich hätte seinen Glauben anzunehmen und meine Heimat zu vergessen.
Und dann verliebte ich mich auch noch in einen Offizier. Ich wünschte, ich hätte damals meine Jungfräulichkeit an ihn verloren – es kam nicht mehr dazu. Ehe ich mich’s versah, saß ich in der Sänfte nach Judäa und verlor alles, was mir etwas bedeutete.«
Haritha schwieg in die Nacht hinein.
»Was … Was ist aus ihm geworden?«, fragte Salome zögerlich.
»Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich weiß, was aus mir geworden ist, Salome. Nichts quält einen mehr als das unerfüllte Verlangen nach Zärtlichkeit und Liebe. Dieses Verlangen ist ein Räuber, es zehrt dich jeden Tag ein Stück mehr auf, du merkst es
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