Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
gehört wenigstens mir selbst, die Einstellung so vieler anderer, die ich kenne, wird ihnen aufgezwungen. Und nun, ehrwürdiger Rabban , entschuldige uns bitte. Die Luft kommt uns heute so eng und stickig vor.«
Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete sie sich von Jehudah, nahm Haritha bei der Hand und tauchte mit ihr in das Gewirr der bunten Gewänder ein.
Der klagende Klang der Flöte erfüllte den Saal, vermischte sich mit dem durch die Fenster strömenden Wind und dem Rauschen der Wellen des Sees. Salome und Haritha tanzten zu der Melodie, die Mensch und Natur gemeinsam spielten. Die Nacht war warm und melancholisch. Die Flämmchen der Öllampen flackerten, und ihr Licht brach hundertfach den Schatten der beiden Frauen, zauberte fliehende Schemen an die Wände, die wie Geister umherirrten. Feine Schwaden des Räucherwerks zogen durch den Saal und trugen ihren zimtartigen Duft bis in die äußersten Winkel.
Haritha klatschte sachte in die Hände. »Jetzt die Brücke von Sanaa.«
Salome wusste, was zu tun war. Sie bog ihren Rücken so weit nach hinten durch, dass sie mit den Händen den Boden berührte, zog den Körper langsam nach, so dass sie für einen kurzen Augenblick kopfüber stand, dann kam sie wieder auf die Beine. Sie konnte stolz sein, diese Figur bereits zu können, doch gegen Haritha wirkte sie noch immer wie eine Holzpuppe. Jede Biegung von Harithas Körper, jeder Schritt, jede Drehung erschien ihr wie ein Kunstwerk. In den Bewegungen der Araberin gab es keine Unterbrechung, keine Pausen oder Störungen, alles war eine flüssige Bewegung. Die Schleier und der Schmuck, die Arme und die Augen, all das gehörte zusammen und wurde genau im richtigen Augenblick eingesetzt. Mit der Selbstverständlichkeit und Schönheit, mit der die Nacht dem Tag folgte oder der Winter dem Sommer, reihten sich die Figuren bei Haritha aneinander, als habe die Natur es so gewollt. Diese Vollkommenheit faszinierte Salome.
Haritha klatschte in die Hände, woraufhin die Flöte hinter der Geheimwand verstummte. »Genug für heute«, rief sie.
»Oh, schon?«, klagte Salome.
»An den Bewegungen deiner Arme ist nichts mehr zu verbessern. Morgen Nacht, wenn wir die schreckliche Einweihungsfeier hinter uns gebracht haben, fangen wir mit den Beinen an. Du wirst lernen, sie wie einen Torbogen zu spannen, sie wie eine Schlange zu winden, wie eine Grille mit ihnen zu springen. Hüften, Rücken, Schultern, Kopf, jedes Körperteil kommt in den nächsten Wochen bei unserem Unterricht dran. Du wirst bald lernen, den Wind zu nutzen, den Schein des Feuers und die Spiegelungen des Wassers. Die Säule der Isis, die indische Flamme, die Tigriswelle: eine Figur nach der anderen wirst du dir einprägen.«
Salomes Augen leuchteten. »Die Nacht ist noch jung. Warum nicht weitermachen?«
Haritha trank einen großen Schluck von dem mit theriac versetzten Tee. Sie lächelte mild, fast abwesend. »Du bist heute nicht ganz bei der Sache. Du denkst immerzu an diesen Rabban , ich spüre es.«
Das konnte Salome nicht leugnen. »Das, wofür er einsteht, ist das Gegenteil von dem, was unser Land bräuchte.«
»Das ist deren Welt, Salome«, sagte Haritha, wobei ihr die Worte aus dem Mund zu schweben schienen. »Jehudah, Antipas, Herodias, Pilatus, sie alle besitzen hier, in meiner Welt, keine Macht. Sie sind nur Schatten, kraftlose Geister, die sich mühen, nicht dem Vergessen anheim zu fallen. Gegen den theriac kommen sie nicht an. Der theriac verjagt sie aus meinem Kopf.«
Haritha ging durch den Saal und blies eine Ölflamme nach der anderen aus. Als alle erloschen waren, entledigte sie sich ihrer Kleider, bis nur noch ein Hüfttuch und ein transparenter weißer Schleier übrig blieben. Ihre dunkle Haut schimmerte durch den dünnen Stoff, ihre Brüste zeichneten sich ab.
»Komm«, flüsterte sie und zog Salome sanft auf die Terrasse. Das silbrige Mondlicht strömte in Bahnen durch die Wolkenfetzen und spiegelte sich auf der ebenen Fläche des Sees Genezareth. Ein böiger Wind bog die Palmen des Gartens; er war warm und schmeichelnd, und Salome schloss die Augen, um ihn besser auf ihrer Haut zu spüren. Sie dachte daran, wie sie die Meeresbrise genossen hatte, an jenem Tag am Strand von Ashdod, mit Timon an ihrer Seite.
Plötzlich trug Haritha einen zweiten Kelch in der Hand. »Du solltest ihn versuchen, den theriac . Er ist warm und alles durchdringend. Obwohl du allein bist, fühlst du die Umarmung lieber Menschen, und du erinnerst dich
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