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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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zunächst gar nicht. Am Anfang hast du noch Hoffnung, die große Täuscherin. Sie ist wie Balsam, der dir den Schmerz nimmt und dich stimuliert. Du lebst auf. Eine Weile ist die Hoffnung auf baldiges Glück fast ebenso schön, als wenn du das Glück tatsächlich erlebtest. Manchmal kehrt der Schmerz zurück, doch nur kurz, denn du rufst die Hoffnung herbei, und sie hilft dir immer. Mit der Zeit klammerst du dich an sie, du betest sie an, deine Gedanken drehen sich nur noch darum. Doch im Lauf der Jahre zerrinnt dir die Hoffnung zwischen den Fingern, ohne dass du etwas dagegen tun kannst. Sie lässt dich allein mit deinen Wunden. Du windest dich, und wenn du glaubst, du musst sterben, kommt die Schwester der Hoffnung und bietet dir ihre Hilfe an. Weißt du, welchen Namen sie trägt, diese Schwester?«
    Salome blickte mit Haritha gemeinsam hinaus in die Dunkelheit. Der Wind schlug ihr heftig ins Gesicht, aber sie regte sich nicht.
    »Resignation«, löste Haritha das Rätsel. »Gleichgültigkeit. Auch sie bietet dir Rettung aus deiner Not an, auch sie kann dir den Schmerz nehmen. Ihr Balsam ist tückisch. Er gibt dir nicht deine Lebenskraft zurück, sondern saugt dir das letzte bisschen davon aus. Wenn du dich der Resignation hingibst, verlierst du nicht nur den Schmerz, sondern überhaupt jedes Gefühl. Du empfindest keine Freude mehr, keinen Zorn, keine Sehnsucht … Die Stunde, in der du deinen letzten Atemzug tust, ist nur eine Farce, ein Theater für die Welt. In Wahrheit bist du schon lange vorher gestorben.«
    Haritha wandte sich ihr zu. Ihr Silberschmuck und der weiße Schleier leuchteten im Mondlicht. Sie fassten sich an den Händen und blickten einander an, zwei schwarze Augenpaare, die sich nicht mehr losließen.
    »Was auch immer geschieht«, flüsterte Haritha, »du darfst nicht resignieren. Was ich vorhin über den Kampf gesagt habe, war falsch. Es war der Neid der Gescheiterten, der aus mir sprach, die Stimme einer Süchtigen, die andere die Sucht lehren will. Leide, wenn es sein muss. Sieh die Hoffnung schwinden und ertrage den Schmerz. Kämpfe dagegen an, schlage um dich. Und wenn du vor dem Scherbenhaufen deiner Träume stehst, dann laufe darüber hinweg und suche neue, egal, wie weh es tut. Aber nie, Salome, niemals darfst du tatenlos stehen bleiben und dich von der Resignation packen lassen.«
    Salome konnte die Kraft spüren, die mit diesen Worten in sie einströmte. Sie hatte in diesem Moment das Gefühl, dass nichts auf der Welt ihr etwas anhaben könnte.
    »Ich verspreche es«, sagte sie.
    »Versprich es nicht mir«, bat Haritha. »Ich werde nicht immer da sein, um dich daran zu erinnern. Versprich es dir selbst.«
    Sie sahen sich noch eine Weile an, dann lösten sie ihre Hände voneinander. Salome folgte Harithas Blick zur fernen Ostseite des Sees, wo die Mondsichel über den Hügeln stand und sie mit ihrem weißlichen Schimmer benetzte.
    Ich verspreche es, dachte sie.
     
    Als Timon sich von der Felswand auf das sichere Plateau zog, riss ihm ein kleiner scharfer Stein die Haut am Unterschenkel auf. Er stöhnte vor Schmerz auf, stellte jedoch sofort fest, dass die Wunde nicht schlimm war. Sie würde nur eine Narbe hinterlassen, die sichtbare Erinnerung an eine schreckliche Zeit, die mit der heutigen Nacht jedoch zu Ende war.
    Onex hatte lange nach Einbruch der Dunkelheit gewartet, bis er das Zeichen zur Flucht gab. Timon hatte sofort damit begonnen, die Tücher um die Fußketten zu wickeln, um die Geräusche der Eisen zu dämpfen. Trotzdem wachten einige der anderen Gefangenen auf und merkten, was vor sich ging. Sie schwiegen jedoch, allerdings nicht aus Freundschaft, sondern aus Gleichgültigkeit.
    Timon und Onex schlichen langsam über den Steinbruch. Die Nacht war ideal für eine Flucht, denn die Mondsichel war hinter einer Wolkendecke verborgen, so dass sie nicht zu hell schien, jedoch noch genug Licht spendete, um die Umrisse der Steine und die eingeschlagenen Kerben in der Felswand zu finden.
    Timon kletterte voran, doch gleich nach der ersten Kerbe verfing sich etwas an einem kleinen Felsvorsprung, löste sich von seinem Schurz und fiel zu Boden.
    »Verflucht«, schimpfte Onex stimmlos. »Was machst du für einen Lärm? Was ist das?« Er hob es auf.
    Timon kletterte wieder zurück. »Danke«, sagte er nur. Die Lederrolle mit einer Kette, die er von seinem Vater bekommen hatte, und den Zeichnungen aus Rom, Ostia und Jerusalem darin war das Einzige, was er noch besaß. Es waren in den

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