Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
einen unmissverständlichen Blick zu, und der verstand ihn.
Kephallion trat einen Schritt vor, hob einen faustgroßen Brocken auf und warf ihn mit lautem Ruf auf Haritha. »Da hast du’s, du Mörderin.«
Der Stein traf Haritha am Kopf. Sie taumelte. Noch immer machte es niemand Kephallion nach. Voller Hass griff er nach dem zweiten Stein und schmetterte ihn auf die Wehrlose, gleich danach den dritten und so weiter. Er steigerte sich in einen regelrechten Rausch hinein, und niemand wusste, wie viele Brocken er schon geschleudert hatte, als ein zweiter Mann sich anschloss und dann immer mehr. »Ehebrecherin«, riefen sie und »Hure«.
Salome schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Nun nahm auch das Dorfvolk am Rande der Senke Steine auf und warf sie auf die Verurteilte. Haritha griff nach ihren Wunden, verzerrte den Mund in stummem Schmerz, wankte und fiel zu Boden, doch der tödliche Steinregen nahm kein Ende. Bald leuchteten nur noch einige bunte Kleiderfetzen unter einem Geröllhaufen hervor, und das schwarze, seidige Haar, um das sie jeder beneidet hatte, ergoss sich wie Pech über das Gestein.
Salome starrte in die Finsternis, in der sie wegen ihres schwarzen Kopfschleiers fast verschwand. Die Stille war tief. Der Rauchfaden des letzten, eben erloschenen Öllämpchens zog wie ein Dunstschleier seine langsame Bahn durch den Raum. Duftwolken des frischen Mandelbrotes, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand, verlockten sie nicht, davon zu essen, obwohl ihr Magen knurrte und der Brauch es gebot. Mit Sonnenuntergang hatte der wöchentliche shabbat begonnen, der Ruhetag, an dem die Familien zusammenkamen und die traditionellen Speisen aßen.
Salome erinnerte sich, wie ihr Vater früher immer den Segen über den Tag gesprochen hatte. Er hielt sich stets penibel an die Tradition, obwohl Herodes das Ritual manchmal zu lange dauerte und er darum schon vorher zu essen begann. Theudion füllte, davon ungerührt, den Kelch mit dem fast schwarzen Wein der Heimat, segnete ihn mit feierlicher Stimme, nippte daran und ließ den Kelch reihum gehen. Auch sie durfte schon früh einen winzigen Schluck davon trinken, ebenso wie alle anderen Kinder. Dann brach Theudion das challa , das runde, flache Weizenbrot, sprach erneut einen Segen, tunkte es in Öl und Salz und gab jedem ein Stück. Erst dann durften alle zu essen anfangen.
Kein shabbat würde je wieder so verlaufen.
Nicht zu glauben, wen sie in den letzten Tagen – außer ihrem Vater – alles verloren hatte: Haritha, die Freundin, mit der sie melancholische Nächte oberhalb des mondbeschienenen Sees Genezareth verbrachte, mit der sie tanzte und sich ohne viele Worte verstand. Herodias … Ein entsetzliches Gemisch aus Gefühlen kochte in Salome hoch, wenn sie an ihre Mutter dachte. Nach Akme war Salome zum zweiten Mal von einem ihr nahe stehenden Menschen verraten worden. Auch wenn Herodias noch lebte: Alles, was Herodias Salome bedeutet hatte, war tot.
Und schließlich Timon. Sie würde sein junges Gesicht, seinen Körper und seine Stimme nie vergessen, aber etwas in ihr nahm Abschied von ihm. Wie hatte Haritha einmal zu ihr gesagt: Wenn du vor den Trümmern deiner Träume stehst, laufe darüber hinweg, egal, wie weh es tut. Niemals darfst du stehen bleiben, niemals resignieren. Sie hatte es ihr sogar versprechen müssen.
Ihr Herz, ihre Gefühle waren ein großes Durcheinander, doch der Verstand sagte ihr, dass sie sich nicht verstecken durfte. Sie musste an die Zukunft denken. Überhaupt musste sie endlich mit Denken anfangen. In der Vergangenheit war sie viel zu oft in ihren sonnigen Träumereien spazieren gegangen und war daher blind gewesen für das Dunkel um sie herum, für die Lügen und den Verrat. Niemals wieder wollte sie sich vorwerfen müssen, eine Närrin gewesen zu sein. Niemals wieder sollte Akme Grund haben, aus ihrem Grab heraus zu lachen.
Eine Dienerin kam herein und brachte ihr einen Becher heißen Tee, um den sie gebeten hatte. Der Duft von Kardamom, Zimt und Gewürznelken half ihr beim Nachdenken, und sie roch immer wieder daran, ohne davon zu trinken.
Nun, nach Theudions Tod, war Herodias alleinige Regentin von Ashdod, und sollte sie heiraten, würde Antipas – und mit ihm Rabban Jehudah – unweigerlich Macht über Salomes Stadt bekommen. Mit ihnen würden Rückschritt und Überwachung ins verhältnismäßig freie Ashdod einziehen, und alles, wofür Salome stand, wäre verloren.
Dagegen gab es nur ein einziges Mittel, die Heirat. In dem Erbe
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