Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
der alten Akme war geregelt, dass sie so lange unter Vormundschaft stehen würde, bis sie verheiratet wäre. Und in einem Nebensatz stand noch die tückische Klausel: »Nur mit Genehmigung ihrer Eltern.« Eine Formel, die Herodias so viel Macht gab, dass man an der Echtheit zweifeln durfte. Wie auch immer: Wenn ihre Mutter ihr die Heirat verweigerte, bliebe sie ehe- und damit machtlos. Daher musste sie einen Gatten erwählen, den Herodias nicht ablehnen konnte .
Ihre Augen verengten sich. Noch einmal ließ sie sich alles durch den Kopf gehen, dann war ihr Entschluss gefasst.
Sie tastete sich durch die Dunkelheit ihres Gemachs und holte ein kleines Tongefäß, in dem kostbar duftendes Nelkenöl schwamm. Damit füllte sie die Öffnungen der menora , des siebenarmigen Leuchters, und entzündete sie anschließend mit einem Zündstein. Die kleinen Flammen erfüllten das Gemach mit einem Muster von Licht und Schatten. Mechanisch griff Salome nach einem Pergament und einer Feder. Die Worte strömten ruhig aus ihrer Hand, ohne Enthusiasmus, ohne Wut, Enttäuschung oder Ärger. Sie fühlte nichts, als sie schrieb.
Von Salome, Fürstin von Ashdod, Prinzessin von Judäa.
An den edlen Marcus Pontius Pilatus, Prokurator von Judäa .
Für alles, was du für mich getan hast, möchte ich dir danken. Wenngleich meine Suche nach Timon ohne Erfolg blieb, habe ich in dir doch einen Freund und Unterstützer gefunden. Ich möchte nun noch ein weiteres Mal deine Hilfe in Anspruch nehmen …
12
Das Erste, was Timon jeden Morgen nach dem Erwachen wahrnahm, war der Duft von Sauberkeit, der alles durchdrang. Die Wäsche, in der er schlief, leuchtete makellos weiß, kaltes Wasser stand in äußerst seltenen Glaskelchen bereit, die wie Edelsteine funkelten, und der milchige, von grünen Adern durchzogene Marmorboden sowie die zartgrün bemalten Wände strahlten eine erfrischende Kühle aus. Durch die ungewöhnlich großen, von Säulen gerahmten Fenster strömte das Licht eines blassen, durchsichtigen Morgens.
Timon stand auf und hinkte langsam zu der Stelle des Raumes, die er, seit er wieder gehen konnte, jeden Tag mehrmals aufsuchte. Der saronische Golf lag wie ein azurblauer Teppich zu seinen Füßen, abgegrenzt durch einen Gürtel aus hohen, schlanken Kiefern. Eine entfernte Uferpromenade war spärlich gesprenkelt mit Männern in weißen, griechischen Tuniken, und irgendwoher erklangen Kinderlachen und Hundegebell. Das Leben in Epidauros wirkte weich und hell.
Vielleicht lag es daran, dass Asklepios, der Gott der Heilkundigen, seine schützende Hand über die kleine, saubere Stadt hielt. Von hier hatte sich einst sein Kult über ganz Hellas und darüber hinaus verbreitet, und noch heute war Epidauros das Zentrum seiner Anbetung. Von überallher kamen die Ärzte, in den Osten des Peloponnes, um ihrem Schutzgott wenigstens einmal im Leben zu huldigen. Dabei hinterließen sie derart großzügige Spenden, dass mehrere tausend Einwohner gut davon leben konnten. Und die berühmtesten Ärzte hatten sich sogar hier niedergelassen und waren die besten Kunden von Kallisthenes, Timons Gastgeber.
»Verzeih, dass ich so hereinplatze«, sagte der Architekt. »Die Diener sagten, sie hätten Geräusche gehört, und da …«
»Schon gut.«
»Du bist früh auf, ein gutes Zeichen.«
»Nicht so früh wie du.«
»Das Licht, Timon. Du findest kein besseres Licht als am frühen Morgen, wenn die Röte verblasst und in ein Weiß übergeht, in das ein Tropfen Blau gemischt ist. Die besten Einfälle habe ich zu dieser Tageszeit. Ich war schon auf der Baustelle für Praxites, und mit Eumenes habe ich die Entwürfe für sein neues Haus durchgesprochen. Er hat zwar ziemlich verschlafen geschaut und gewiss nur die Hälfte von dem verstanden, was ich ihm …«
Timon kannte das schon. Wenn Kallisthenes von Häusern, Räumen, Steinen, Höfen, Säulen, Friesen und dergleichen erzählte, fand er kein Ende mehr. Vielleicht war das der Grund, weshalb er nicht verheiratet war. Der Beruf war seine Ehefrau und jeder Auftrag wie ein Kind, das aufgezogen werden wollte. Kallisthenes hatte immer Häuser zu bauen, häufig mehrere gleichzeitig, denn Epidauros war wohlhabend, und Korinth und Athen waren nicht weit. Manchmal musste er sogar einen Auftrag ablehnen, und dann blutete ihm das Herz. Möglicherweise war das der Grund, weshalb er Timon in die Lehre nehmen wollte. Es verging kein Tag, an dem er diese Idee nicht direkt oder auf Umwegen zur Sprache brachte.
Während
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