Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
bat. Manchmal saß er auf diesem Stuhl neben Weiden oder Äckern, an Dorfbrunnen, auf Felsen, vor Scheunentoren … Kein Ort war ihm zu gering, keine Angelegenheit zu profan, um sich nicht ihrer anzunehmen.
Seit ihrer Heirat vor sechs Jahren folgte Salome ihm auf seinen ständigen Streifzügen. Nur zu den höchsten Feiertagen, zu pessach und chanukka, kehrten sie in die Hauptstadt Bethsaida zurück, ansonsten zogen sie durch die einzelnen Provinzen ihrer Tetrarchie, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
Das Land Golan war der fruchtbarste Landstrich. Die Ebene entlang des Jordan leuchtete in sattem Grün und war übersät mit Schafen und Olivenhainen, und auf den dahinter liegenden Hügeln prangten weithin sichtbar die Reihen der rotblättrigen Rebstöcke wie ein Brandmal auf der trockenen, nahrhaften Erde. Weiter nördlich, im Lande Dan, erhoben sich die ersten Ausläufer des mächtigen Gebirges Hermon, über dessen Pässe Händler aus dem reichen Syrien kamen. Doch sie blieben selten in der Tetrarchie Philipps, sondern reisten weiter nach Galiläa oder zur Küste, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln. Östlich der beiden wasserreichen Provinzen, im Zentrum der Tetrarchie, lag Basan, das dem Fürstentum den Namen gab. Hügel und Berge wechselten sich mit Flusstälern und versandeten Feldern ab. Die Hitze am Tag und die Kühle der Nacht ließen Nuss- und Feigenbäume sowie wilde Beeren reich gedeihen, doch dort lebten bereits zu wenige Menschen, die diese Gebiete hätten bewirtschaften können. Jenseits von Basan kam nur noch die Wüste der Provinzen Trachon und Auran, die sich lediglich dadurch unterschieden, dass Trachon heiß und felsig war und Auran heiß und sandig.
Irgendwo an der Grenze zwischen diesen Einöden, nahe einem kleinen Dorf, saß Salome unter einem Baldachin neben ihrem Gemahl und verfolgte zum ungefähr zehntausendsten Mal einen der Rechtsfälle, die Philipp vorgetragen wurden.
Ein bärtiger Mann mittleren Alters stand händeringend vor Philipp und brachte seine Klage vor. »Ich bin Jude, Herr«, begann er zum besseren Verständnis seines Anliegens, denn die Tetrarchie, die abseits vom Kernland Judäas lag, war mehrheitlich von arabischen Nichtjuden bevölkert. »Ich führe eine Herberge nahe Bethsaida und bin den weiten Weg zu dir und deinem Stuhl gereist, um Gerechtigkeit zu fordern. Dieser Bursche« – der Jude deutete auf einen pummeligen Mann in schäbigem Gewand – »kam vor dreißig Tagen während eines Unwetters in meine kleine Herberge und begehrte Quartier. Ich gab ihm und seiner Frau, die ihn begleitete, ein Zimmer über der Scheune, mit einem bequemen Lager aus trockenem Stroh und Wolldecken. Die beiden speisten mit uns und den anderen Gästen Ziegenkäse, Feigen und Brot, wir tranken sogar Wein aus neuen Tonbechern, und vor dem Schlafengehen erbot sich seine Frau, meinem Weib beim Abräumen der Platten zu helfen. Sie umarmte mich und die anderen sogar, bevor beide zu ihrer Schlafstatt gingen. Für eine Jüdin wäre das ungewöhnlich gewesen, doch da die beiden Nichtjuden sind, dachte ich mir nichts dabei.«
»Worin liegt deine Klage?«, fragte Philipp. Seine Stimme klang unbeteiligt, aber wer ihn kannte, wusste, dass er jedes einzelne Wort, das er eben gehört hatte, hätte wiedergeben können. Recht zu sprechen war seine Leidenschaft, die einzige, die Salome an ihm kannte.
»So weit, so gut, Herr. Am nächsten Morgen ging mein Weib in das Zimmer über der Scheune, um die beiden zu wecken, und dabei stellte sie fest, dass die Frau unrein war. Nun verstehst du sicher mein Problem.«
Jeder der Anwesenden begriff, worauf die Klage hinauslief. Während der monatlichen Blutung galt jede Frau einem Juden als unrein. Jeden, den sie berührte, und auch alles, worauf sie sich während dieser Zeit legte oder setzte, wurde unrein. Alles, was sie angefasst hatte, musste penibel gereinigt und manche Gegenstände gar zerstört werden, zum Beispiel, wenn etwas aus Ton oder einem anderen, schwer zu säubernden Material hergestellt war.
»Mein Weib hat alle Tonbecher zerschlagen, weil sie verständlicherweise nicht mehr wusste, welche von ihnen die Unreine in Händen hatte. Eine Amphore, aus der die Unreine Wasser genommen hatte, musste ebenfalls zerschmettert werden. Ich habe das gesamte Stroh der Kammer verbrannt. Das Schlimmste war, dass meine jüdischen Gäste, die von ihr berührt worden waren, bis zum nächsten Sonnenuntergang selbst als unrein galten und ihre Geschäfte nicht
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