Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Stets mied er Themen, die irgendeinen Aspekt seiner Persönlichkeit betrafen, gleichgültig, ob es um seine Gefühle, seine Kindheit oder seine Gesundheit ging. Wenn sie sich ihrerseits einem solchen Thema annäherte, umschiffte er es wie ein erfahrener Bootskommandant durch wendige Manöver. Es war beinahe, als habe er Angst, dass jemand auch nur einen winzigen Einblick in sein Inneres bekäme. Da stellte sogar die Hand auf der Schulter bereits ein Risiko dar.
Salome zog ihre Hand zurück und setzte sich wieder auf ihren etwas kleineren Sessel, der zwei Schritte entfernt stand.
Für heute waren die Verhandlungen beendet, aber es wartete noch ein unliebsamer Besucher auf eine Audienz: Rabban Jehudah, der geistige Führer der Pharisäer. In letzter Zeit hielt er sich häufiger in der Tetrarchie Philipps auf, denn er trachtete danach, seine Sekte stärker als bisher in Basan zu etablieren. Als reichten die unzähligen Gebote der thora nicht aus, unterwarfen sich immer mehr Juden freiwillig den Geißelungen durch Vorschriften und Verbote, die die Pharisäer nahezu monatlich herausbrachten und verbreiteten. Viele, so erklärte sich Salome das Phänomen, flüchteten sich aus der tatsächlichen Welt, die von Besatzung und Ratlosigkeit geprägt war, in die Welt Gottes und des Glaubens, die voller Verheißungen war – oder von den Pharisäern dazu gemacht wurde. Denn die Belohnungen für alle Selbstquälereien, so ließen sie verlautbaren, sei das Wohlwollen Gottes. Die Entwicklung schien sich nicht aufhalten zu lassen, und Rabban Jehudahs Drohung gegenüber Salome, dass die Pharisäer eines Tages ganz Judäa beherrschen und eine Art Priesterstaat errichten würden, war auf dem besten Weg, Wirklichkeit zu werden.
Immerhin musste Jehudah in Galiläa, das schon fast vollständig pharisäisch dominiert gewesen war, in letzter Zeit Rückschläge einstecken. Antipas, Salomes Onkel und seit sechs Jahren auch ihr Stiefvater, herrschte als grausamer Despot über sein Fürstentum. Die schlimmen Zeiten des Herodes hielten wieder Einzug: Wahrsager und Sternendeuter bestimmten die Handlungen des Tetrarchen, überall witterte er Gegnerschaft und Verrat, Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Es hieß, dass er in den Nächten von schlimmen Albträumen geplagt werde und dass er ständig die Strafe des Herrn fürchte, weil er die unschuldige Haritha habe töten lassen. Das Leid in Galiläa war so groß, dass zahlreiche Menschen dort ihre Höfe verließen und in anderen Landesteilen Schutz suchten, auch in Basan. Viele Galiläer unterschieden nicht mehr zwischen der Grausamkeit des Tetrarchen und der Untätigkeit der obersten Pharisäer. Sie wandten sich von Rabban Jehudah ab und anderen Predigern zu, die entweder für absolute Gewaltlosigkeit oder absolute Gewalt eintraten, für Seelenfrieden oder blutigen Kampf, für Milde und Barmherzigkeit oder Hass und Rache. Das Volk war gespaltener denn je, und die Zeloten wurden mit jedem Tag stärker und gefährlicher.
Aus übergroßen Augen starrte der Pharisäer Philipp an. »Euer Bruder wünscht, dass ihr einen Verbrecher, der sich auf euren Boden geflüchtet hat, suchen lasst und an ihn ausliefert.«
»Warum schickt er dich dafür her, einen Rabbiner ?«
»Es handelt sich um keinen gewöhnlichen Verbrecher«, erklärte Jehudah. »Der Mann ruft das Volk Israel dazu auf, dem Einen Gott abzuschwören und stattdessen ihn selbst anzubeten.«
»Der Prediger will, dass die Leute ihn anbeten?« Philipp zeigte sich überrascht, was selten vorkam.
»So ist es. Er behauptet, der Messias zu sein. Ein unerhörter Frevel, dem jeder Jude, gleich, welcher Sekte er angehört, nur Verachtung entgegenbringen darf.«
»Der Messias ? Sehr ungewöhnlich. Worauf stützt dieser Prediger seine Behauptung?«
Rabban Jehudah zögerte. »Es ist ein wenig komplizierter, Fürst. Es soll dir genügen, wenn ich sage …«
»Es genügt mir nicht«, entgegnete Philipp ohne Schärfe in der Stimme oder in den Augen.
Die Augen des Pharisäers hingegen weiteten sich noch mehr. »Er behauptet einerseits, der Messias zu sein, andererseits spricht er davon, dass sein Vater der Messias ist und er nur der Sohn und Verkünder. Doch auch das ist Frevel. Derzeit predigt er nahe deiner Hauptstadt Bethsaida. Du musst ihn verhaften lassen, Fürst, damit er vor Gericht gestellt werden kann.«
»Wie ist sein Name?«
»Er heißt Joseph, Sohn des Joseph. Viele nennen ihn Jesus.«
»Und was – außer Frevel – wird ihm
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