Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
all seiner Fehler nicht der gottlose Barbar aus dem Westen mit großer Freude an Unterdrückung, als den ihn nicht wenige hinter vorgehaltener Hand anprangerten. Und dass Griechen keine feigen, hinterhältigen Ränkeschmiede waren, denen nichts mehr Genugtuung bereitete, als die Juden zu ärgern, dafür stand Timon als Beispiel. Sie hatte schon immer das Fremde und Unbekannte geschätzt oder geliebt. Umgekehrt entsprachen nur sehr wenige Juden dem Bild, das sich andere Völker von ihnen machten, nämlich verbissen und unbelehrbar zu sein. Die meisten Juden waren ausgesprochen gastfreundlich und hilfsbereit, nur die römische Besatzung stellte ihre Tugenden auf eine harte Probe. Mehr und mehr dominierten Ablehnung und sogar Feindschaft ihre Herzen, und es kam vor, dass sie ihre schlechte Stimmung an völlig Unbeteiligten ausließen.
Trotz dieser Schwierigkeiten war Salome überzeugt, dass es nur dann zu einer Verständigung der Völker der Tetrarchie kommen konnte, wenn alle Menschen auf die gleiche Stufe gestellt wurden, auf der sie zurzeit eindeutig nicht standen. Bisher nämlich gab es in Philipps Tetrarchie zum einen Gesetze, die Streitigkeiten zwischen Nichtjuden regelten, zum anderen die thora , das Gesetz des Herrn, das Streitigkeiten zwischen Juden regelte. Gab es Streitigkeiten zwischen einem Juden und einem Nichtjuden, galt ebenfalls die thora , und diesen Zustand empfand sie als skandalös.
Philipp wandte sich wieder dem bärtigen Juden und dem pummeligen Nichtjuden zu. »So bestimme ich, dass vom heutigen Tage an ein neues Recht in meinen Provinzen gilt, nämlich dass bei Fällen zwischen einem Juden und einem Nichtjuden nicht länger unweigerlich die thora Grundlage des Urteils ist. Der Beklagte ist stets nach jenem Recht zu behandeln, das für seine Volksgruppe gilt, also der Jude nach der thora , die anderen nach dem übrigen Kodex. Damit will ich erreichen, dass sich künftig ein jeder mit den Bräuchen und Gepflogenheiten der anderen beschäftigen und sie berücksichtigen muss. Ansonsten hat er als Kläger vor Gericht das Nachsehen.«
Der Bärtige und der Pummelige blickten einander verwirrt an, dann fragte der Ältere Philipp: »Aber was bedeutet das jetzt für mich, für meine Klage?«
»Künftig musst du dich vorher bei deinen Gästen erkundigen, ob sie gerade unrein sind oder nicht – oder dich darf ihre Unreinheit nicht mehr stören. Nach dem Kodex der Nichtjuden machen sie sich keines Vergehens schuldig, wenn sie unrein sind und dennoch bei dir einkehren. Nur von Juden wird fortan verlangt, dass sie sich an die Gebote des Herrn halten.«
»Und meine Verluste?«, jammerte der Bärtige.
»Diese neue Regelung ist erst gültig, wenn sie überall verkündet ist. Normalerweise müsste ich den Beklagten nach dem alten Recht der thora zum Ersatz deiner Verluste verurteilen, doch da er nichts besitzt, übernehme ausnahmsweise ich selbst die Verluste, die dir entstanden sind, und zahle auch deinem Gast die zwei Doppeldrachmen zurück, die er dir gegeben hat. Auf diese Weise wird euch beiden geholfen.«
Tatsächlich strahlten die beiden um die Wette und waren sogar dicht davor, sich gegenseitig in die Arme zu fallen, da jeder das bekommen oder behalten hatte, was er wollte. Nur ein mahnendes Wort Philipps hielt sie davon ab. »Denkt daran: Zukünftig müsst ihr die Sitten der jeweils anderen respektieren. Nur so werden die Völker eines Tages zusammen …«
Plötzlich drückte er sich die Fingerspitzen an die Stirn und biss die Zähne aufeinander. Salome brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er Schmerzen verspürte, denn sie hatte dergleichen noch nie bei ihm gesehen. Ebenso wenig wie er Launen zu haben schien, zeigte er je körperliche Befindlichkeiten. Als sie endlich begriff, dass etwas nicht mit ihm stimmte, trat sie sofort neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter.
»Ist dir nicht wohl?«, fragte sie. »Soll ich die Leute wegschicken?« Erst im nächsten Moment fiel ihr wieder ein, dass sie mitten in einer Geröllwüste waren und das Gefolge daher nicht einfach wegschicken konnten. Doch er lehnte ihr Angebot ohnehin ab.
Er hob seine Hand wie zur Abwehr, blickte an ihr vorbei und sagte wie üblich ohne Betonung: »Danke, es war nichts. Machen wir weiter.«
Auf gewohnte Weise schloss er sie wieder von allem aus, was ihn persönlich betraf. Er stieß sie nie schroff von sich, wenn sie ihm körperlich oder emotional zu nahe kam, sondern trat seinerseits einen Schritt zurück.
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